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„Nach dem Ausstieg fing ich bei Null an“

taz: Ängstigt Sie „Harmagedon“?

Stephan Erich Wolf: Nicht mehr. Aber als ich noch Zeuge war, hat das mein ganzes Leben bestimmt.

Inwiefern?

Ich machte in den Siebzigern eine Lehre als Industriekaufmann, weil ja 1975 dieses System am Ende sein würde. Eine bessere Ausbildung hatte also gar keinen Wert.

Wie haben Sie sich den Weltuntergang vorgestellt?

Mit Bildern von einstürzenden Hochhäusern und panischen Menschen.

Warum stiegen Sie vor fünf Jahren bei den „Zeugen“ aus?

Ich hatte angefangen, Bücher über Sekten zu lesen. Da fielen mir die Parallellen zu den Zeugen Jehovas auf: der Mechanismus, die Mitglieder völlig zu isolieren. Alle, die nicht in der „Wahrheit“ leben, sind nur „Weltmenschen“. Und die missioniert man, oder man hat sich von ihnen fernzuhalten.

Wann sind Sie „Zeuge“ geworden?

Ich war 14, als meine Eltern Zeugen wurden, und 16 als ich mich taufen ließ.

Warum, meinen Sie, haben sich Ihre Eltern auf die Zeugen eingelassen?

Sie hatten wenig Freunde. Und wenn Außenstehende zum ersten Mal in einen Königreichsaal kommen, dann sind alle unglaublich freundlich. Von dem Druck, der später ausgeübt wird, ist zu dem Zeitpunkt noch nichts zu spüren.

Was veränderte sich, nachdem Ihre Eltern konvertiert waren?

Das ganze Leben war der Religion gewidmet. Wer am Wochenende wegfuhr, statt Treffen zu besuchen, galt als „geistig schwach“. Und plötzlich gab's auch Schläge. Es gibt da eine Bibelstelle: „Gott züchtigt seine Söhne“ oder so.

Durften Sie wenigstens in die Disco?

Das war verpönt. Ebenso Geburtstags- und Weihnachtsfeiern. Und natürlich Freundschaften mit weltlichen Kindern. So wurde ich zum Außenseiter.

Was geht einem da durch den Kopf?

Eine Mischung aus Frust und Stolz. Das Leben ist irgendwie ärmer, aber ich gehörte zu den Auserwählten.

Wie haben Sie sich dem Druck der Zeugen letztlich entzogen?

Ich fing an, zweifelnde Briefe an die Zentralen in Selters oder Brooklyn zu schicken. Antwort bekam ich nie.

Statt dessen hat Sie ein Gemeindeältester zur Rede gestellt.

Ja, und ich kam nicht mehr auf die Rednerliste, weil ich als kritisch galt. So blieb ich einfach weg, füllte den Felddienstbericht nicht mehr aus und ließ mir einen Bart stehen...

...was bei den „Zeugen“ verboten ist?

Nein, aber als unschicklich gilt.

Wurden Sie dann exkommuniziert?

Nein, ich war ja auch nie offizielles Mitglied wie fast alle „Zeugen“.

Wie hat Ihre Familie reagiert?

Mit meiner Frau, damals noch eine eifrige „Zeugin“, konnte ich nicht mehr reden. Vor allem, als ich Literatur von ehemaligen „Zeugen“ gelesen hab', was verboten ist. Wir sind dann mehrmals an der Scheidung entlanggeschrammt.

Sind Sie heute einsam?

Nach meinem Ausstieg mußte ich bei Null anfangen. Inzwischen kenne ich viele Leute, die mit den „Zeugen“ nie etwas am Hut hatten. Und dann ist da der Kontakt zu den ehemaligen „Zeugen“. Ich betreue eine Kontaktadresse im Internet für Aussteiger. Das ist meine Art der Vergangenheitsbewältigung. Interview: Uta Andresen

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