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Die Wirklichkeit politisch gestalten

■ Die ehemalige Senatorin für Stadtentwicklung und Frauen, Traute Müller (SPD), fragt sich: Ist Rot-Grün nur ein auswechselbares Zweckbündnis?

Wir sind in letzter Zeit nicht verwöhnt worden mit inspirierenden politischen Perspektiven. Um so erfreulicher ist der Ablauf der rot-grünen Koalitionsverhandlungen: Zügig werden die strittigen Themen entschieden. Die Muster altbekannter Rituale sind zum Erstaunen der Öffentlichkeit aufgebrochen. Keine Krisensitzungen, statt dessen ein konstruktives Klima und Entscheidungen. In der Geschichte rot-grüner Verhandlungen hat ein neues Kapitel begonnen.

Dabei ist nicht auf Formelkompromisse gesetzt worden: Die SPD hat bei ihren klassischen Themen, wie etwa der Hafenerweiterung und der Elbvertiefung, keine Kurskorrekturen vorgenommen. Die GAL hat konkrete Veränderungen unter anderem bei den großen Wohnungsbauvorhaben, beim Fahrradverkehr und in der Energiepolitik durchgesetzt. Der bisherige Verhandlungsverlauf ist also durchaus ein positives Signal für Hamburg und eine richtige Schlußfolgerung aus der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit politischen Entscheidungsprozessen. Er läßt auf eine weitere konstruktive Zusammenarbeit hoffen.

Dennoch bleibt eine Grundsatzfrage bislang offen, die für den Erfolg einer rot-grünen Koalition von entscheidender Bedeutung sein kann: Ist Rot-Grün ein auswechselbares Zweckbündnis, oder ist es eine Konstellation, mit der sich gesellschaftspolitische Hoffnungen verbinden? Auch wenn heute aus nachvollziehbaren Gründen die pragmatische Zukunftsgestaltung an die Stelle großer Visionen gerückt ist, geht es doch darum, ein Gefühl für die Richtung zu entwickeln, die eingeschlagen werden soll.

Rot-Grün ist für mich die politische Orientierung auf eine Modernisierung der Gesellschaft, in deren Mittelpunkt der ökologische Umbau der Industriegesellschaft steht. Denn Arbeit und Umwelt sind die zwei entscheidenden Herausforderungen der Zukunft. Hier fehlen Konzepte, hier haben auch die Koalitionsverhandlungen nicht den großen Durchbruch gebracht.

Die Frage wird sein, ob eine rot-grüne Koalition gemeinsam für dieses Ziel arbeitet und innovative Konzepte entwickelt. Dann könnten Synergie-Effekte entstehen zwischen beiden Parteien. Wünschenswert wäre mehr als der bekannte rot-grüne Warenkorb. Leit-orientierung könnte zum Beispiel eine nachhaltige Produktionsweise sein, die auch regionale Wertschöpfungsprozesse unterstützt, in einem Klima, das Innovationsbereitschaft und Kreativität wachsen läßt.

Wir brauchen arbeitsplatzschaffende Innovationen in vielen Bereichen der Wirtschaft. Der Blick ist heute zu stark auf die weltmarktorientierten Unternehmen und den Hafen konzentriert. Wir müssen statt dessen von einer pluralen Ökonomie und einer Vielfalt von Lebensstilen ausgehen: Kleine und mittlere Betriebe sowie Existenzgründer sollten verstärkt gefördert werden. Es gilt, neue Arbeit zwischen Staat und Markt zu initiieren. Nachhaltige Produktionskonzepte in Handwerk und Industrie, die Wertschöpfung in die Region zurückholen und mit Dienstleistungen verbinden, können neue qualifizierte Arbeitsplätze schaffen.

Wesentlich wären auch Strategien, die Arbeit in benachteiligte Stadtteile bringen. Handlungsbedarf besteht sowohl für alte als auch für neue Wohngebiete. Hier sollten stadtteilbezogene Dienstleistungen, Car-Sharing-Angebote, Existenzgründungsprojekte, neue Jobs für Jugendliche integriert werden. Dabei geht es nicht darum, von oben Wohltaten in die Stadtteile zu bringen, die an der Situation der Menschen nichts ändern. Es geht darum, neue Arbeit zu initiieren, und zwar solche, die unter der Beteiligung der Menschen selbsttragende Entwicklungen ermöglicht. Das heißt einen Rahmen dafür zu schaffen, daß Menschen wieder selbst aktiv werden.

Wir brauchen neue Berufsfelder für junge Leute. Statt ihre Langeweile und Perspektivlosigkeit in sozialen Brennpunkten hinzunehmen, sollten ihre Kompetenzen genutzt werden. Bezirksverwaltungen, Lehrerkollegien und Jugendfreizeitstätten sollten beginnen, Jugendkompetenz zu nutzen.

Eine Gesellschaft, in der die einen drinnen sind und die anderen draußen, wird zerbrechen. Deshalb ist auch eine Teilzeitoffensive für den öffentlichen Sektor erforderlich. Dies schafft Raum für andere Lebenskonzepte, in denen Arbeit für alle wichtig, aber nicht alles ist.

Dies alles sind Beispiele, die erweitert, ergänzt und konkretisiert werden müssen. Dabei läge die Chance einer rot-grünen Koalition darin, daß neue Dialoge und Aktivitäten für die Zukunftsgestaltung angestoßen werden. Hierzu können viele Menschen Ideen und Erfahrungen beisteuern.

Dies setzt bei Roten und Grünen Offenheit für neue Vorschläge und die Bereitschaft zu gemeinsamem Handeln voraus. Eine kurzsichtige Konkurrenz um den kleiner gewordenen Wählermarkt wäre sinnlos. Auch eine allzu pragmatische Oberflächenbearbeitung der politischen Themen würde die potentiellen Möglichkeiten einer rot-grünen Koalition ungenutzt lassen. Von 100 Wahlberechtigten in Hamburg haben zuletzt nur noch 25 Prozent die SPD gewählt. Nur 55 Prozent der Wahlberechtigten sind in der Bürgerschaft vertreten. Weder das Wahlprogramm der SPD noch das der GAL hat daran etwas ändern können.

Beide Partner können aus der Koalition Vorteile erzielen, wenn die Menschen erleben, daß sich ihre Wirklichkeit mit Hilfe der Politik gestalten läßt. Hierzu gehören Effizienz, Kooperationsbereitschaft und gemeinsame Ziele.

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