Leben und lernen zwischen den Fronten

Im Westjordanland erzieht die renommierte christliche Privatschule Talitha Kumi in der Nähe von Jerusalem palästinensische Kinder zum Zusammenleben mit Israelis. Hier loben sich Schüler und Lehrer gegenseitig  ■ Aus Beit Jala Georg Baltissen

Vom Dach der Kirche geht der Blick weit über die hügelige Landschaft. Enge Täler verleihen den Hügeln im Westen eine Imposanz, die ihre tatsächliche Höhe leicht vergessen lassen. In nordwestlicher Richtung ragen die 15 Kilometer entfernten Hochbauten Jerusalems deutlich sichtbar gen Himmel, im Osten schmiegen sich die kleinen, weißgrauen Steinhäuser Bethlehems an einen sanft abfallenden Hügel. Kiefernbäume verstellen die Aussicht auf den Dschebel Abu Ghneim oder Har Homa, dessen einst dichtgewachsener Pinienwald inzwischen dem Haarschnitt eines Irokesen gleicht. Vor einem halben Jahr brachte dieses Siedlungsprojekt den Friedensprozeß im Nahen Osten zum Stillstand.

Auf einem entfernten Hügelkamm im Süden leuchten die roten Dächer der israelischen Siedlung Efrat in der Morgensonne. Im Südwesten zieht sich die Umgehungsstraße für die israelischen Siedler in Hebron und Kiryat Arba den Hügel hinauf. Auf halber Höhe neben der Straße, die als silbergraues Band schimmert, liegt das nur ein paar hundert Seelen zählende palästinensische Dorf Khader. Jede Bewegung dort kann man mit bloßem Auge verfolgen. Dreihundert Meter entfernt der israelische Checkpoint, der den südlichen Zugang nach Jerusalem kontrolliert.

Das Kirchendach, das diesen Blick bietet, gehört zum evangelischen Schulzentrum Talitha Kumi in Beit Jala. 1869 taufte das Diakoniewerk von Kaiserswerth ein Kinderheim für arabische Mädchen in Jerusalem erstmals auf den Namen Talitha Kumi, der dem Evangelium des Apostels Markus entliehen ist. Mit Unterbrechungen betreuten und unterrichteten Diakonissen dort bis 1949 Kinder verschiedenen Alters. Grundstück und Gebäude lagen nun im israelischen Westjerusalem und wurden beschlagnahmt. An ihrem heutigen Ort wurde die Schule 1961 neu eingeweiht, nach einem Intermezzo im Gemeindezentrum des deutschen Jerusalemvereins in Beit Jala, und arbeitete auch unter israelischer Besatzung weiter. Ihr heutiges Renommee hat sich die mit 850 SchülerInnen größte christliche Privatschule im autonomen Palästina vor allem durch ihre „Friedenserziehung“ erworben. Die Schule ist Ort israelisch-palästinensischer Begegnung.

„Mit Konflikten leben“, lautet ein Lernziel, das in einzelnen Unterrichtsstunden auch im Rollenspiel geübt wird. Herausragend ist die Partnerschaft mit dem israelischen Gymnasium Ironi Dalet in Tel Aviv. „Angefangen hat es mit dem Sommercamp 1996“, sagt der deutsche Schulleiter Wilhelm Goller. „Damals trafen sich rund 200 Israelis, Palästinenser und Europäer in Talitha Kumi.“ Am 28. Februar dieses Jahres fuhren die SchülerInnen der 11. Klasse von Talitha Kumi nach Tel Aviv. Ganz so einfach sei es nicht gewesen, meint Schulleiter Goller. „Erst um Mitternacht, also acht Stunden vor der Abfahrt, kam – nach wochenlangen Bemühungen – das israelische Okay, daß alle Schüler mitfahren konnten.“

Der Gegenbesuch gestaltete sich noch schwieriger, weil Israelis nach dem Abbruch der Friedensverhandlungen nicht ohne militärische Begleitung in die Autonomiegebiete reisen durften. Israelisches Militär auf seinem Schulgelände im autonomen Palästina aber lehnte Goller strikt ab. Es habe gedauert, bis ein „neutraler“ Treffpunkt gefunden worden sei, so der Schulleiter. Inzwischen ist das nächste Treffen in Vorbereitung. Doch der 17jährige Ala', der im nächsten Jahr Abitur machen wird, ist skeptisch: „Die dauernde Abriegelung ist ungerecht. So kann es keinen Frieden geben“, meint er. Seine Lieblingsfächer sind Physik und Mathematik. „Ich werde nach Deutschland gehen und dort studieren“, sagt er. „Und wenn Gott will, werde ich Computeringenieur.“

Einen ausgefallenen Berufswunsch hat die 12jährige Na'ameh. Voller Selbstbewußtsein erklärt sie: „Ich will Sängerin werden.“ Doch die Bitte um den Vortrag eines Liedes lehnt sie mit einem Lächeln ab. Trotz der Absperrung, die inzwischen wieder aufgehoben ist, sei sie jeden Tag zur Schule gekommen, sagt sie stolz. „Mein Vater hat mich mit dem Auto bis zur Straßensperre gebracht. Von da aus bin ich dann zu Fuß gelaufen.“ Wegen dieses Fußwegs von einigen hundert Metern hätten viele palästinensische Eltern Angst um ihre Kinder gehabt, sagt der Schulleiter. Zwar liegt die Schule im Autonomiegebiet, doch die Straße vor der Schule gehört zum C-Gebiet – dem Gebiet, in dem die Israelis die militärische und zivile Kontrolle ausüben – weil sie zur Siedlung Har Gilo oberhalb von Beit Jala führt. „Ich habe selbst beobachtet, wie sich israelische Soldaten einen Spaß daraus gemacht haben, mit hoher Geschwindigkeit an den Kindern vorbeizufahren, um sie zu erschrecken“, erzählt Goller.

Auch hätten viele Kinder Angst vor den Siedlern. Zudem seien in diesem Sommer nach den Selbstmordanschlägen erstmals alle Schleichwege zur Schule dichtgemacht worden. Er selbst und der deutsche Vertreter in Jericho, Sebastian Kobler, hätten wiederholt an den Straßensperren über die Durchfahrt der Busse verhandelt, nicht immer mit Erfolg. Seit Aufhebung der internen Abriegelung gebe es allerdings keine Behinderungen mehr, sagt Goller.

Die Pausenattraktion auf dem Schulhof ist ein neu angelegter Fischteich. Zwar sind noch keine Fische da, doch umstehen Dutzende von SchülerInnen den kleinen Teich mit Springbrunnen. „Die Schüler sollen die Natur kennenlernen und aus erster Hand erfahren, wie kostbar Wasser ist“, sagt Christina Rabia, die Mathematiklehrerin. Der Teich gehört zum Umwelterziehungsprogramm der Schule. Einige Lehrer haben engen Kontakt zur israelischen „Gesellschaft zum Schutz der Natur“ aufgebaut. Gegenwärtig verfolgen israelische und palästinensische Schulen, die entlang der Vogelfluglinie liegen, den Weg der Zugvögel und tauschen ihre Daten per Internet aus.

Umwelt- und Naturschutz stehen nicht in den offiziellen palästinensischen Curricula, an die auch Talitha Kumi gebunden ist. Diese Fächer, wie auch die musischen, fordern von den Kindern eine zusätzliche Lernbereitschaft, machen aber die Schule besonders attraktiv. Ebenso wie die Offenheit der rund 50 Lehrer: Die Tür zum Lehrerzimmer ist nie geschlossen. „Die Lehrer hier sind wunderbar, wie meine Eltern“, sagt der 12jährige Meshdi. „Wenn ich ein Problem habe, dann lösen sie es.“ Normalerweise herrscht an palästinensischen Schulen eine strenge Hierarchie und Disziplin. Hier loben die LehrerInnen ihrerseits das Engagement ihrer Schüler.

84 Prozent der Kinder gehören einer christlichen Religion an, 16 Prozent sind Muslime. Dennoch fängt der Morgen für alle SchülerInnen mit einer Andacht an. Vorgeschrieben ist eigentlich das Singen der palästinensischen Nationalhymne. Doch wegen des Renommees der Schule bestehen die Behörden nicht darauf. Vor zwei Jahren habe die Autonomiebehörde sogar geplant, das neun Hektar große Gelände mit den zahlreichen Gebäuden als Regierungssitz zu nutzen. „Wir mußten auf Geheiß der Sicherheitsbehörden zwei große Bäume fällen, um einen Hubschrauberlandeplatz für Arafat zu schaffen“, erzählt Goller. Doch weil die Straße vor der Schule im C-Gebiet liegt, habe die Autonomiebehörde das Vorhaben wieder zurückgezogen. Wie es sich gehört, hängt im Büro des Direktors ein Bild des palästinensischen Präsidenten.

Größter Stolz der Schule ist die Turnhalle, erzählt die Volontärin Ulrike Schröder aus Potsdam, die ein freiwilliges Jahr in Talitha Kumi verbringt. „Sie ist die einzige im gesamten Westjordanland“, sagt Schröder. Ausgestattet wurde sie mit Mitteln aus DDR-Kirchen, die allerdings erst nach 1989 in Talitha Kumi eintrafen. Schröder ist unter anderem für die Betreuung von Touristen und Pilgern im Gästehaus zuständig, 48 Übernachtungsplätze bietet das Schulzentrum an. Seit 1975 ist das Berliner Missionswerk der evangelisch-lutherischen Kirche Träger der Schule. 1980 wurden erstmals Jungen aufgenommen, in den folgenden Jahren konnte die Schule ausgebaut werden, ihr Betrieb wurde nach Beginn der Intifada 1987 durch Streiks und israelische Schulschließungen aber immer wieder stark eingeschränkt. Seit 1994 liegt die Verantwortung für das Erziehungswesen nun bei der palästinensischen Autonomiebehörde.

Der Gärtner stapft durch die terrassierten Felder von Talitha Kumi. Er baut das Gemüse an, das in der schuleigenen Küche gebraucht wird. Nicht nur die Gäste und das Personal, sondern auch 41 Internatsmädchen müssen versorgt werden. Sie leben in einem eigenen Trakt, betreut von Gruppenmüttern. Die Kleinen von der 1. bis zur 7. Klasse schlafen gemeinsam in einem großen Raum. Die Älteren haben geräumige Zweibettzimmer. Die Stadt Köln hat im Rahmen einer Partnerschaft mit Bethlehem einen Kinderspielplatz gestiftet, der im März dieses Jahres von einer Kölner Arbeitsloseninitiative gebaut worden ist. Er kommt nicht nur den Internatskindern, sondern auch den 105 Mädchen und Jungen im hauseigenen Kindergarten zugute. Je nach Fähigkeiten werden die Kinder in verschiedene Gruppen eingeteilt. Gegenwärtig lernen die Fortgeschrittenen gerade Namen und Beschaffenheit der menschlichen Sinnesorgane kennen, wie die Schaubilder an der Wand verraten. Die Kleineren üben geometrische Formen ein, indem sie Kreise, Vierecke und Sterne ausschneiden.

Das Berliner Missionswerk stellt 75 Prozent des jährlichen Etats, zumeist aus Spenden. Fünf Prozent zahlt die Bundesregierung, und die restlichen 20 Prozent werden vor Ort erwirtschaftet. Das Schulgeld beträgt 800 Mark im Jahr und entspricht damit der Hälfte des jährlichen Durchschnittseinkommens im Westjordanland. Über die Zulassung zur Schule entscheidet allein der Schulleiter, über die Höhe des zu zahlenden Schulgeldes ein palästinensisches „Sozialkomitee“. Um sozial schwache Familien entlasten zu können, vermittelt Talitha Kumi Patenschaften für palästinensische Kinder, die mindestens 50 Mark im Monat betragen.

Seit Anfang des Jahres besitzt Talitha Kumi die offizielle Lizenz für Sprach- und Computerkurse. Ehemaligen palästinensischen Gefangenen bietet das Zentrum die Möglichkeit zu einer Zusatzausbildung und den Lehrern einen sinnvollen Nebenerwerb, denn von ihrem Gehalt allein können sie in der Regel nicht leben. Im Januar dieses Jahres wurde der erste Jahrgang der Hotel- und Restaurant- Schule abgeschlossen. Mit dieser anderthalbjährigen Berufsausbildung hat die Schule erfolgreich Neuland betreten. Zwei Drittel der Absolventinnen fanden sofort einen Arbeitsplatz. Erstmals in diesem Jahr bietet das Schulzentrum in Zusammenarbeit mit dem palästinensischen Sozialministerium auch einen Kochkurs für weibliche Ex-Gefangene an. Beworben hat sich Talitha Kumi jüngst um die Anerkennung als Unesco-Schule. Das würde neue Projekte ermöglichen. Schulleiter Goller ist zuversichtlich. Er will bis zu seiner Pensionierung in Palästina bleiben.