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■ NachschlagJazzFest und Total Music Meeting

In manchen Momenten hat das Berliner JazzFest die Atmosphäre eines Parteitages. Im braun getäfelten Auditorium im Haus der Kulturen der Welt fangen die eigenen Hände an, willenlos Stakkato zu klatschen, selbst wenn einen die Musik langweilt. Und wie bei jedem ordentlichen Parteitag gibt es eine Gruppe von Dissidenten, die einem verstohlen Flugblätter zustecken: das Veranstaltungsprogramm vom Total Music Meeting, dem traditionellen Gegenstück zum JazzFest.

Das Total Music Meeting feierte an diesem Wochenende sein 30jähriges Bestehen, und so glich die Geburtstagsfeier einem Veteranentreffen: Peter Brötzmann, Irene Schweizer, Alexander von Brötzmann Foto: Owsnitzki Schlippenbach, sie alle gehörten zu dem Gründungskollektiv. Eine zu konservative Kleiderordnung des JazzFests soll damals der Auslöser gewesen sein. Aber vor allem wollte man der Enge der musikalischen Konventionen entkommen und der Freien Musik Raum geben. Mittlerweile hat man sich mit den Machern des JazzFests längst arrangiert. Es gibt Terminabsprachen, und sogar die chronisch knappe Finanzlage versucht Jost Gebers, der künstlerische Leiter des TMM, ins Positive zu rücken: „Dafür sind wir künstlerisch unabhängiger als das JazzFest. Uns reden weder ARD-Gremien noch Kultursenatoren in die Programmauswahl rein.“ Auch haben beide Festivals ein gemeinsames Problem: den Nachwuchs. Genau wie man im Haus der Kulturen der Welt mit Vorliebe die alten Mitstreiter von Miles Davis herankarrt und dafür Höchstgagen bezahlt, weiß man auch im Podewil nicht so recht, an wen man den Stab weiterreichen soll. „Die Jungen können nicht improvisieren“, pauschalisiert Gebers. Der interessanteste Nachwuchs käme aus in Japan oder den Vereinigten Staaten. Für die Flugkosten fehle dann allerdings wieder das Geld.

Solange die Jungen auf sich warten lassen, haben aber auch noch die Vertreter der alten Garde jede Menge Energien zu versprühen – das bewies dieses Wochenende im Podewil. Charles Gayles Trio sollte man noch besser in New Yorker U-Bahn-Schächten sehen, wo man selbst nicht so unbeweglich sein müßte wie hier im Zuschauerraum. Keith Tippet legte Plastikbecher auf die Seiten seines Pianos und entlockte ihm so symphonische Klänge zwischen Sitar und Oszillator. Der Akkordeonspieler Gianni Coscia des italienischen Duos Radici war der Karl May des Festivals. Auf seinem Instrument erfand er Volksmusik aus Gegenden, wo er nie gewesen ist. Der alte Eber Brötzmann nervte wieder mit seinem Brunftgeschrei. Diese Töne preßt er aus Saxophonen, die größer als Heizungskörper sind.

Schön wäre, wenn die Veranstalter von JazzFest und Total Music Meeting beim nächsten Mal einige Acts heimlich untereinander austauschen würden. Dann müßten sich Herbie Hancock und Wayne Shorter dem nicht von vornherein ovationswilligen Publikum im Podewil präsentieren, und Charles Gayle hätte in der alten Kongreßhalle vielleicht die Chance seines Lebens. Von ihm stammt das Zitat: „Wenn die Halle nach unseren Auftritt noch steht, haben wir versagt.“ Noel Rademacher

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