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Null Komma nichts für die Opfer

■ Der doppelte Maßstab deutschstaatlicher Fürsorgepflicht: „Spiel auf Zeit. Der Skandal um die Wiedergutmachung“ (23 Uhr, ARD)

„Irgendwann muß es ja ein Ende haben mit der Wiedergutmachung, auch im Interesse der deutschen Bürger.“ Dieser Satz der Staatssekretärin im Bonner Finanzministerium, Irmgard Karwatzki, bringt die Haltung der Bundesregierung prägnant auf den Begriff. Er fiel in einem Interview, das die Dokumentaristinnen Ulrike Bremer und Broka Herrmann für ihren Film „Spiel auf Zeit“ führten. Auch dieser Titel trifft die Sache. Wer von den 30.000 Überlebenden von KZ und Zwangsarbeit, die das Pech hatten, nach dem Krieg in Ungarn oder Tschechien, in Südosteuropa oder den baltischen Staaten leben zu müssen, wird noch in der Lage sein, die Almosen entgegenzunehmen, die ihnen unsere Regierung vielleicht zugestehen wird?

Die Autorinnen haben sich nicht damit begnügt, ein weiteres Mal das Skandalstück „Deutsche Wiedergutmachung“ historisch bebildert Revue passieren zu lassen. Sie haben die Opfer deutscher Macht und Größe in ihrem Alltag aufgesucht, wo das Geld entweder für Miete oder Lebensmittel reicht. Aber sie zeigen sie auch in ihrem Stolz und ihrer Würde. Die Opfer wollen keine milden Gaben, sie fordern ein wenig, ein klein wenig Gerechtigkeit. Dieser Forderung nachzukommen wäre, der Zuschauer ahnt es, für die Deutschen fast ebenso wichtig gewesen wie für ihre ehemaligen Opfer.

Ulrike Bremer und Broka Herrmann konfrontieren uns mit den praktischen Folgen des doppelten Maßstabs, den unsere Bundesregierungen an ihre Fürsorgepflichten legt. Renten für die ehemaligen SS-Freiwilligen in Riga und Budapest, eine finstere Schar alter Kameraden, ein Milieu, in dem auch die Auschwitz-Verleugnung blüht. Vertröstungen, Verschleppung, schließlich null Komma nichts für die Opfer. So platt, so schematisch ist nun mal die Wahrheit.

Höhepunkt der Dokumentation ist der Auftritt des notorischen Eberhard von Brauchitsch, der Inkarnation des häßlichen Deutschen. Nicht die kaltblütigen Lügen des ehemaligen Flick-Bevollmächtigten über die Entschädigungsbereitschaft seines einstigen Brotherrn sind das Schreckliche. Derlei gehört zur Imagepflege und wird außerdem im Film durch Karl Brozik, Vertreter der „Jewish Claims“ widerlegt. Es ist diese joviale, um Verständnis heischende, gleichzeitig aber brutale und immer noch rassistische Melange, die einen vor Wut zittern läßt. Die Autorinnen verschweigen nicht, daß in den letzten Jahren eine neue Generation von Managern vor dem Faktum der Sklavenarbeit nicht mehr die Augen verschließt. Aber diese Haltung bleibt bis heute nahezu konsequenzlos, wie die Praxis der ehemaligen Sklavenhalter-Firmen gegenüber den Überlebenden in Osteuropa zeigt.

Schade, daß die Filmerinnen der Überzeugungskraft solcher Interviews nicht vertrauten. Den kurzen Lehrgang durch die deutsche Nachkriegsgeschichte hätten sie sich sparen können. Schwacher Agitprop innerhalb eines starken Films. Christian Semler

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