: Welke Blätter im Unistreik
■ Der Streik unzufriedener StudentInnen dehnt sich aus. Mit Pfeifen und Gitternetzen zogen sie durch einige hessische Städte
Wieviele da gekommen waren und in langen, lauten Menschenschlangen aus den überfüllten Zügen auf den Vorplatz des Wiesbadener Hauptbahnhofes quollen, war gestern mittag noch nicht abzusehen. Gut 10.000 werden geschätzt.
T-Shirts mit dem roten Punkt „Lucky Streik“ sind kistenweise da. Und Müllsäcke, gefüllt mit Platanenblättern. Die StudentInnen haben sich welche ins Haar, an die Jacken, hinter die Brillengläser gesteckt. Sie symbolisieren „den Bildungsherbst“. Müllsäcke als Oberbekleidung tragen die KunststudentInnen aus Gießen in den ersten Reihen. Sie haben sich dazu für die Gesichter kleine Drahtkäfige gebaut, in denen ihr freier Geist gefangen ist. Das kollidiert mit den Trillerpfeifen, die sie mühsam durch die Drahtmaschen fädeln müssen.
Die Zahl der Streikenden in Hessen hat sich seit dem Wochenanfang erhöht. Im Streik sind seit gestern außer Marburg und Gießen auch drei Fachbereiche der Frankfurter Universität, die Fachhochschule für Sozialarbeit und die Fachhochschule und Technische Universität Darmstadt.
An der Straßenecke gegenüber dem Hauptbahnhof hält Sascha Krüger ein Transparent hoch. Der Medizinstudent aus Marburg protestiert gegen die „Bildungs-Amputation“. Sein Fachbereich streikt, „das ist ein riesengroßer Schritt für die Humanmediziner“, seit „Dienstagabend, 20.42 Uhr“ mit. Hundert Meter weiter lärmt die Demonstration lautstark vor dem Amt des hessischen Finanzministers Karl Starzacher (SPD). Und um die Ecke geht der Krach bei Wissenschaftsministerin Christine Hohmann-Dennhardt gleich weiter.
Da rührt sich nichts, nur von den Platanen flattert neues Agitationsmaterial. „Ja, ja“, sagt eine Studentin mit Blick auf die Blätter, „hier werden die Grünen auch immer gelber.“ Ein Physikstudent, einziger nonverbaler Angriff des Tages, erprobt währenddessen die Aerodynamik einer Bananenschale: „Falsch berechnet.“ Sie trifft weit neben die aus dem Fenster surrende Polizeikamera.
Im ersten Drittel des Zuges haben sich auch die Professoren formiert. Vorneweg schreitet der Gießener Universitätspräsident Heinz Bauer. Seinen Kanzler Breitenbach hat er „gleich mitgebracht“, stellt Professor Schramm, Prodekan der Physiker, vor und verweist außerdem höflich auf die Anwesenheit des Darmstädter Präsidenten. Bauer staunt über einen weißen Zettel: „Das ist ja ein richtiger Schein!“ „Bescheinigung über die Teilnahme an der Praktischen Übung“ steht da zu lesen, welche da ist die „Demonstration gegen den Bildungsabbau“. Ein anderer „Streik-Schein“ honoriert gestaffelt: Teilnahme an Vollversammlungen, Demo und Einsatz als Streikposten.
Präsident Bauer findet, über die Anregung von Rita Süssmuth zu einem bundesweiten „Bildungspfennig“ müsse „ernsthaft nachgedacht“ werden. Die hessische Finanzministerin, die im kommenden Jahr noch einmal 27 Millionen Mark einsparen muß, habe, so Professor Wolfgang Franke, Geologe, schon in der vergangenen Woche bei einem Besuch in Gießen „den Offenbarungseid“ geleistet.
Zehn Meter daneben ist Musikdozent Anselm Richter wie seit Tagen schon wieder ganz in seinem Element als Vorsänger: „Ade nun zur guten Nacht, die Uni wird zugemacht.“ Er dirigiert mit einer Fliegenklatsche. Die Forderungen haben sich seit Beginn des Streiks an der Justus-Liebig-Universität in Gießen vor zwei Wochen nicht verändert: Demokratisierung der Universitäten, ausreichende Finanzierung und Erweiterung der Rechte der Studierenden.
Daß die rot-grüne Landesregierung in Wiesbaden dafür nur eingeschränkt der richtige Adressat ist, wissen sie auch. Die Transparente und Plakate richten sich vor allem an die Adresse der Bonner Politker. Kohl, Abrißbirne gegen das Bildungswesen, wird gefragt: „Wo lassen Sie denken?“ Einige Plakate rufen auch zum bundesweiten Aktionstag Anfang Dezember in Bonn auf. Heide Platen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen