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Die Angst der Eltern am hellichten Tage

■ Beobachtungen in Ohlstedt nach dem erneuten Sexualverbrechen an einem Kind Von Monika Fillter

Sonnenlicht, Vogelgezwitscher, Ferienzeit. Ein gutes Dutzend Kinder, kostümiert mit bunten Tüchern und Trikots, mit Cowboy-Hüten oder märchenhaftem Kopfputz über den Sturzkappen, reitet beim alten Forsthaus in Ohlstedt auf geduldig mitspielenden Pferden. Warum die Kinder ausgerechnet im Mai Fasching feiern wollen? Das haben sich die zehnjährige Vera (Name geändert) und ihre Freundinnen einfach mal so als Ferienabwechslung ausgedacht, erzählt Veras Mutter, die an diesem Morgen am Gatter steht und schaut, ob alles in Ordnung ist. In den vergangenen Tagen hat sie ihre drei Kinder stets selbst mit dem Auto chauffiert.

Zwei Jugendliche in der Kluft der „Guardian Angels“ lehnen ebenfalls am Zaun, wollen durch Anwesenheit beschützen. „20 bis 30 Guardian Angels patroullieren tagsüber“, gibt der eine zu Protokoll, fünf oder sechs Jugendliche sähen sich nachts in dem beschaulichen Vorort um, in dem das durchschnittliche Jahreseinkommen bei über 90.000 Mark liegt. Hier, wo alles sicher scheint, ist Verunsicherung die bestimmende Vokabel in diesen Tagen. Und ebenso gemischte Gefühle empfindet auch die Reporterin auf der Suche nach Spuren, die zwei Verbrechen in den Köpfen der Menschen im Alstertal hinterlassen haben.

Am frühen Abend des 28. April hatte ein Unbekannter auf dem Parkplatz der Schule am Duvenstedter Markt die elfjährige Jenny in sein Auto gezerrt und brutal „mißbraucht“ – die Sachlichkeit des sprachlichen Ausdrucks beschönigt den seelischen Mordversuch an einem Mädchen. Schon Anfang September 1994 war die neunjährige Louisa aus Ohlstedt einem – offensichtlich unter dem Druck psychischer Deviationen stehenden – Mann zum Opfer gefallen.

„Man stellt sich doch die Frage 'Wer ist die Nächste?'“, sagt Pastor Hartmut Nielbock von der Gemeinde Wohldorf-Ohlstedt in seinem wohnlich-gemütlichen Pfarrbüro, dessen Wände Heiligenbilder und Familienfotos schmücken. Er kennt die kleine Louisa aus seiner Gemeinde und erzählt, es sehe momentan so aus, daß sie eines Tages über die Folgen des Verbrechens hinwegkommen könne. Er mißtraut der Idylle im Vorort: „Sie können ja hier meist nicht mal das nächste Nachbarhaus sehen. Wir leben hier anonym, versteckt in unseren Häusern. Und daß wir diese Isolation aufbrechen müssen, kriegt die Gemeinde auch von der Kanzel zu hören.“ Die Verunsicherung nach den beiden Verbrechen gehe „tief nach innen, bis hin zu einem Ohnmachtsgefühl“.

Aber was kann man tun? Veras Mutter liest nun mit ihrer Tochter die Zeitungen und sucht ihr eindringlich zu vermitteln, daß „Höflichkeit nicht mehr angesagt ist.“ Ein Ansatz, den auch Regina von der Beratungsstelle „Dolle Deerns“ vernünftig findet. Kindern werde meist abtrainiert, sich zu wehren und ihrem Gefühl zu trauen, wenn ihnen jemand unsympathisch oder unheimlich ist: „Die natürliche innere Alarmanlage wird demontiert.“ Es gelte, Skepsis zu fördern. Auch Mädchen könnten sich wehren, zumindest aber schnell weglaufen. Selbstverteidigung lasse sich auf spielerische Art lernen, auch könne man mit Kindern besprechen, was ihnen denn selbst dazu einfällt, um sich gegen gefährliche Erwachsene zur Wehr zu setzen. „Gewalt ist Realität. Die Kinder kann man nicht wegschließen, aber man kann daran arbeiten – das gilt schließlich auch für Erwachsene –, in bedrohlichen Situationen nicht vor Schreck zu erstarren.“

Wie die Menschen in den Walddörfern in ihrer Angst reagieren, bekommt Polizist Hinz besonders deutlich mit. Er steht an diesem Donnerstag in einem Pflanzenmarkt am Info-Stand, den die Polizei täglich an wechselnden Orten aufstellt – Schutzmänner in Bürgernähe. Immer wieder kriegt Hinz zu hören: „Wenn wir den in die Finger kriegen, braucht ihr euch um den nicht mehr zu kümmern.“ Für solche in Wut und Verunsicherung wurzelnden Rachegelüste zeigen die Beamten Verständnis. Gut vorstellbar, daß gerade die große Angst in den Vororten so einem pathologischen Triebtäter ein ganz besonderes Machtgefühl beschert.

„Und dann schreiben Sie doch mal“, bittet Polizist Hinz, „daß hier 50 junge Kollegen von der Landespolizeischule, nachdem sie den ganzen Tag im Hörsaal gesessen haben, freiwillig und unbezahlt Fahndungs-Handzettel verteilen und mit den Menschen ins Gespräch kommen.“ So großes Engagement verdutzt sogar den altgedienten Schutzmann. Eine „heiße Spur“ aber gibt es trotz intensiver Suche und „akribischer Überprüfung“ der über 300 Hinweise aus der Bevölkerung bislang nicht.

Der Tatort, der Schulparkplatz, wo Jenny am vergangenen Freitag abend um viertel vor sieben entführt wurde, ist menschenleer. Offensichtlich ist es unmöglich, solche zu bestimmten Tageszeiten verlassenen und mit dem Auto einfach zu erreichenden Orte, von denen es hier etliche gibt, lückenlos zu observieren. Ein sonniger Platz, der nun sogar am hellichten Tag Beklemmung auslöst. Der Blick über den Schulhof fällt auf absurdes Spielplatzgerät, das eher dekorativ als nach spannenden Spielen aussieht. Da kann man sich langhangeln, links, rechts, mittig an bunten Eisenrohren hängen. Phantasie und Gestaltungswille könnte allein der Sand noch fördern, aus dem sich Plätzchen, Kuchen und Burgen bauen lassen. Mir fallen die Worte der „Dolle Deerns“-Beraterin Regina wieder ein: „Was haben denn Kinder bei uns für Rechte?“

Vera und ihre Freundinnen haben ihr Faschingsfest im Mai durchgesetzt. Verkleiden macht eben nicht nur am Rosenmontag Spaß. Den wilden Zorro oder die allmächtige Prinzessin spielen – dabei lernen sie vielleicht auch, dann, wenn's sein muß, überhaupt nicht artig zu sein und Mut zu haben. Mut dazu, Erwachsene, die ihnen gefährlich werden, tüchtig zu beißen, ihnen den Finger ins Auge zu stecken oder aber schnell wie der Wind nach Hause zu rennen.

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