: Eine schwedische Nationalheilige
Sie wollte zu ihrem 90. Geburtstag in Ruhe gelassen werden. „Mein größter Wunsch ist, daß niemand mir Blumen schenkt oder mich besuchen kommt. Es ist nicht, daß ich undankbar bin – aber meine Kräfte reichen für solche Feierei ganz einfach nicht mehr.“ Aber man gehorchte ihr nicht: 2.000 Schulkinder als Jubiläumssänger, Kulturpersönlichkeiten von Rockstars bis zu Schriftstellerkollegen und Politiker mit Ministerpräsident Göran Persson feierten in ihrem südschwedischen Heimatort Vimmerby Astrid Lindgren – ohne die Jubilarin. Sie hatte selbst abgelehnt, per Telefon für einige Minuten zumindest in Fernkontakt über Lautsprecher zum Marktplatz Vimmerbys zu stehen: „Ich bin zu alt dafür, höre nicht mehr gut und bin zu müde.“
Das verzeiht man einem Nationalheiligtum gerne. Ihre Bücher führen mangels Neuausgaben zwar nicht mehr die Bestsellerlisten an, dafür aber in langer Reihe die Ausleihwunschlisten der Bibliotheken. Selten, daß nicht mindestens eine der nach ihren Büchern verfilmten Serien gerade im Fernsehen gezeigt wird. Ihr 90. Geburtstag gab Anlaß, noch einmal draufzusatteln: Wochenlang bereiteten die Zeitungen Sonderbeilagen ihr zu Ehren vor. Keine Schule, die auf sich hält, hat nicht zumindest gerade eine Astrid- Lindgren-Projektwoche laufen – wenn man gleich sie und die Zeit, in der ihre Hauptfiguren leben, unter allen möglichen Perspektiven zum Thema des ganzen Winterhalbjahres gemacht hat.
Taucht die Autorin doch hin und wieder bei einer Ehrung oder einer Preisverleihung auf – zuletzt vor drei Wochen in Kopenhagen –, gibt sie meist eine recht ruhige, kurze Vorstellung. Um der Medienneugier zu entgehen, weist sie sehr bestimmt auf ihre Gebrechlichkeit, ihre Fastblindheit und ihr schlechtes Gehör hin. Seltsamerweise gelingt es ihr trotzdem, genau das zu hören und wahrzunehmen, was außerhalb der üblichen Fragerei liegt und ihr eine schelmische Antwort wert scheint. Als sie kürzlich zur Schwedin des Jahres gewählt wurde, fragte sie das Preisgremium, ob sie wirklich nicht daran gedacht hätten, daß alle Welt nun glaube, in Schweden wimmele es nur so von klapprigen Wracks, wie sie eines sei.
Fragen nach der von Kritikern verrissenen, von ihr aber abgesegneten Zeichentrickverfilmung von „Pippi Langstrumpf“ pflegt sie mit einem spitzen „Dazu sage ich gar nichts“ zu beantworten. Ein Wort, das schwer wiegt – und dem Film nicht gerade viele Besucher bescheren wird. Astrid Lindgrens Bekundungen zu gesellschaftspolitischen Fragen hatten immer Folgen – ob zur Steuerpolitik, zur Friedensbewegung oder zum Tierschutz. Daß es mit solcher – wenn auch selten gewordenen – Einmischung ein Ende haben soll, weist sie von sich.
Wohl aber, daß sie bestimmt kein Buch mehr schreiben und sich über „Zeitungsschreibereien“ nicht mehr ärgern will. Als 1991 Bild einen Artikel begann mit „Eine alte Frau sitzt in einer bescheidenen Drei-Zimmer-Wohnung in der Stockholmer Altstadt. Ihr Haar ist wirr, ihre Augen starren ins Leere...“, ohne daß je ein Journalist dieses Blattes sie besucht hätte, beschwerte Astrid Lindgren sich beim Chefredakteur persönlich. Reinhard Wolff
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