: Schiß vor dem Zahnarzt? Es gibt eine gute Nachricht für notorische Angsthasen. Schwedische Zahnklempner rücken der Karies neuerdings mit lösenden Chemikalien zu Leibe - Schmerzfaktor null. Ganz jedoch wird die Behandlung mit Carisolv den Bo
Schiß vor dem Zahnarzt? Es gibt eine gute Nachricht für notorische Angsthasen. Schwedische Zahnklempner rücken der Karies neuerdings mit lösenden Chemikalien zu Leibe – Schmerzfaktor null. Ganz jedoch wird die Behandlung mit Carisolv den Bohrer wohl doch nicht ersetzen können.
Der rosarote Karieskiller aus der Tube
„Neulich kam ein Patient zu mir, der 60 Jahre nicht beim Zahnarzt gewesen war. Die Zahnreste konnte ich mit der Hand aus seinem Mund pflücken. Nur unerträgliche Schmerzen hatten ihn nach Jahren schließlich doch zur Behandlung getrieben.“ Margareta Forsberg war nicht die einzige, die auf der seit Donnerstag in Stockholm stattfindenden jährlichen ZahnärztInnentagung solche Horrorgeschichten zu erzählen wußte. Sie handeln von Menschen, die – wie rund fünf Prozent der schwedischen Bevölkerung – unter solch extremer Angst vor dem Zahnarzt leiden, daß sie einfach nie hingehen. Oder – wie jeder zehnte – einen Besuch so lange aufschieben, bis es wirklich gar nicht mehr anders geht.
Beim diesjährigen Treffen der bohrenden Zunft standen Methoden im Zentrum der Diskussion, mit denen man die Verweigerer auf den Liegestuhl bringen kann. Neben Hypnose und Therapie statt Narkose – bislang noch am häufigsten praktiziert, aber wohl eher zusätzlich angstfördernd – gibt es eine neue Technik, die den Bohrer (fast) überflüssig machen soll: Die Zahnklempner bedienen sich dabei eines Gels, das die Karies binnen 30 Sekunden aus dem gesunden Zahn herausschmilzt. Eine Methode, die so naheliegend klingt, das man sich fragt, warum nicht schon längst jemand darauf gekommen ist.
Tatsächlich ist sie so neu gar nicht. Versuche, mit lösenden Chemikalien statt bohrendem Stahl der Karies zu Leibe zu rücken, wurden schon in den achtziger Jahren in den USA als großer Durchbruch zu einer „humaneren“ Zahnbehandlung gefeiert. Auch in Europa wurde „Caridex“ erprobt, verschwand aber ebenso schnell wieder vom Markt. Die damalige Technik, bei der in einem Spezialapparat zwei chemische Komponenten (Aminobufyrsäure und Hypochlorit) gemischt und mit einer Spritze auf den Zahn getröpfelt wurden, war zu teuer und beseitigte vor allem nicht den gesamten Kariesbefall. Für die Feinarbeiten mußte dann doch zum Bohrer gegriffen werden.
Was von „Caridex“ blieb, war das Interesse, an diesem Prinzip weiterzuforschen. Und hierbei scheinen schwedische Zahnmediziner die Nase vorn zu haben. Seit dem Frühjahr laufen Versuche mit einem neuen Kariesgel, das in Zusammenarbeit der Zahnarzthochschule und der TU Chalmers in Göteborg entwickelt wurde. Statt einer werden nun drei Aminosäuren mit unterschiedlichen Ladungen zusammen mit Hypochlorit verwendet: eine für die Karies angeblich restlos todbringende Substanz. Die auf die faulige, nicht aber auf die gesunde Zahnsubstanz aggressiv wirkende Mischung wird auf die befallene Zahnstelle getröpfelt und nach einigen Sekunden des Einwirkens und Auflösens mit einem sternförmigen Spezialgerät im Zahnloch verrührt. Vom schwarzen Loch bleibt ein – statt ursprünglich rosa – nun trübe gewordener Gelee, der am Ende einfach abgesaugt werden kann. Die Tropferei kann wiederholt werden, bis das Gel sich nicht mehr kariestrüb verfärbt.
Die Versuche, die an schwedischen Kliniken mit dem neuen 4-Komponenten-Gel gemacht wurden, klingen erfolgversprechend; weniger Zahnsubstanz als beim Bohren muß entfernt werden. Daß das Gel ein kantiges Loch mit gebirgsähnlicher Struktur für die Füllung hinterläßt, hat sich zumindest für die neuen Kompositstoffe eher als Vorteil erwiesen; diese haften besser. Amalgam und Gold dagegen sind nicht so anschmiegsam, hier muß doch noch mit dem Bohrer nachgeglättet werden. Ein als erfreulich angesehener Nebeneffekt: Das Gel ist blutstillend und erleichtert damit die Arbeit am Zahn.
Verschiedene Studien sollen nun zum einen das Zusammenwirken des Gels mit den gängigen Zahnfüllungen untersuchen, zum anderen aber auch die möglicherweise abträglichen Nebenwirkungen für Patient und Personal. Noch zu frisch ist die Erfahrung, daß sich die als Wunderersatz für das giftige Amalgam gefeierten Plastikfüllungen als Allergiequelle ersten Ranges für die Zahnärzte selbst herausstellten. Definitives wird sich erst sagen lassen, wenn sich erwiesen hat, daß der Kariesbefall restlos beseitigt werden kann und nicht nach Monaten wiederauftaucht. Am mehreren hundert bislang behandelten PatientInnen soll ein Jahr lang untersucht werden, ob sich keine Karies mehr irgendwo versteckt hat. Erst dann soll das Wundermittel auf den Markt kommen. Die Herstellerfirma „Medi Team“ in Göteborg will das Gel unter dem Markennamen „Carisolv“ auf den Markt bringen. Die Einführung ist für das erste Halbjahr 1998 geplant.
Auch wenn die schwedische Chemiemischung die Karies aus bislang unbehandelten Zähnen offenbar sicher herausfressen kann, so endet diese Fähigkeit bei bereits vorhandenen Füllungen aller Art. Diese müssen nach wie vor erst einmal weggebohrt werden. Und wenn die Karies sich etwa zwischen zwei Zähnen verbirgt, muß der Bohrer den Weg durch den Zahnschmelz erst öffnen. Die Botschaft aus dem Norden lautet also: nicht ganz ohne, aber vielleicht bald mit viel, viel weniger Bohrerei in eine angstfreiere Zukunft.
Nicht ganz so euphorisch über die neue Methode ist Professor Elmar Reich von der Uni Homburg. Erst einmal müsse in klinischen Studien geprüft werden, ob die Wirkung von Carisolv überhaupt exakt kontrolliert werden könne. „Nicht auszuschließen ist“, warnt der Zahnmediziner, „daß das Mittel auch angrenzendes Gewebe angreift, eventuell sogar den Zahnnerv schädigt.“ Von einer Revolution in der Zahnmedizin könne daher seiner Ansicht nach noch nicht gesprochen werden. Er denkt eher daran, daß Carisolv eine zusätzliche Behandlungsmethode werden könne. Den von Patienten so gefürchteten Bohrer werde das Mittel aber nicht ersetzen können. Reinhard Wolff, Stockholm
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