Analyse
: Kohls Kinder

■ Warum in Hessen und anderswo die Erstsemester auf die Straße gehen

An den Universitäten Gießen, Marburg und Frankfurt boykottieren Studierende den Lehrbetrieb. Der Protest entzündete sich in Gießen. Dort wollten 600 Erstsemester der Pädagogik in ein Seminar, das für 60 Leute ausgelegt war. Mit anderen Worten: Die Anwesenheit der Studierwilligen macht inzwischen Lehre an den Unis unmöglich. Das ist kein hessischer Sonderfall. Genau wie Rot-Grün in Wiesbaden kürzen beinahe alle Landesregierungen an ihren Hochschulen – auch wenn allenthalben die Zukunft der Bildung beschworen wird. Doch nach wie vor wird an der Lebenslüge der Bildungsexpansion der 60er Jahre festgehalten. Man könne, hieß es damals, den „Studentenberg untertunneln“. Auf deutsch: Mit der gleichen Anzahl Professoren doppelt so viele Studierende ausbilden. Das funktionierte, mit Ach und Krach, bis in die 90er Jahre. Inzwischen aber leiden die öffentlichen Etats an Schwindsucht. Gleichzeitig steigt die Studierneigung wieder an. Das Faß läuft über.

Empört sind darüber zuallererst die Erstsemester. Die in den späten 70er Jahren Geborenen merken, daß man sie belogen hat. Rien ne vas plus beim Seminarroulette. Nicht die Studierenden, die Universitäten sind es, die die Regelstudienzeiten nicht mehr einhalten können. So lautet der erste Erkenntnisgewinn der Kinder Kohls. In Gießen müssen sie geschlagene vier Semester warten, ehe sie ins Pflichtseminar für Anfänger dürfen. Da gehen sie lieber auf die Straße demonstrieren. Der Protest freilich wird kein Happening. In den autonomen Seminaren, die Studierende jetzt auf dem Campus ausrufen, stehen unangenehme Wahrheiten auf dem Programm: die Machtverhältnisse an den Unis. Denn jene Professoren, die Seit' an Seit' mit ihnen protestieren, halten die absolute Macht in Händen. Gegen deren – seit 1973 durch das Bundesverfassungsgericht – garantierte Mehrheit lassen sich Veränderungen so gut wie nicht durchsetzen.

Der Blick auf die ersten Forderungskataloge – wie den der Landeskonferenz der Allgemeinen Studentenausschüsse in Nordrhein-Westfalen – zeigt dennoch ermunternde Ergebnisse. Nicht mehr Durchhalteparolen für das revolutionäre Kuba zieren Platz eins. Die Studierenden verlangen Tutorien als finanzielle Sofortmaßnahmen, sprich: Geld, das nicht in alte Strukturen fließt. Sie fordern, Studiengebühren gesetzlich zu verbieten. Und sie wollen die Allmacht der Professoren durch Aufhebung des Beamtenstatus sowie durch Demokratisierung der Hochschulgremien beschneiden. Ob es der Politik gelingt, die Studenten zu beschwichtigen, wird sich Ende dieser Woche in Gießen zeigen. Dorthin reist Ministerpräsident Hans Eichel. Er bringt 100.000 Mark mit in die Justus-Liebig-Uni, deren Lehretat er (seit 1993) um 5 Millionen Mark gekürzt hat. Christian Füller