■ Weißrußland: Seit einem Jahr regiert Lukaschenko wie ein Diktator
: Land ohne Lobby

Vor exakt einem Jahr machte ein sonst von der Weltöffentlichkeit wenig beachtetes Land Schlagzeilen: Weißrußland. Der Präsident des 10-Millionen- Einwohner-Staates, Alexander Lukaschenko, hatte mal eben alle anderen Staatsorgane ausgeschaltet sowie Recht und Gesetz außer Kraft gesetzt. Doch mußte Lukaschenko dazu weder das Parlament beschießen noch persönliche Widersacher in einen bewachten Zwangsurlaub schicken.

Im Gegenteil: Das Volk durfte demokratisch entscheiden. Auch wenn Unwilligen die Wahlmoral erst mit dem Schlagstock eingeprügelt werden mußte und freundliche Herren alten Männern und Frauen beim Ankreuzen die Hand führten, war das Ergebnis eindeutig: Die Mehrheit der WeißrussInnen hatte sich per Stimmzettel von der Demokratie verabschiedet.

Ein Jahr danach übertrifft die Wirklichkeit der Lukaschenko-Diktatur selbst düsterste Prognosen. Die staatliche Repressionsmaschine funktioniert perfekt. Unabhängige Organisationen werden, wie die Soros- Stiftung, zur Aufgabe gezwungen oder sonst auf jede erdenkliche Art schikaniert. Die wenigen noch verbliebenen kritischen Journalisten werden verfolgt, verhaftet und, im besten Fall, mit horrenden Geldstrafen wirtschaftlich ruiniert.

Die weißrussischen Oppositionellen, die für ihren Einsatz im wahrsten Sinne des Wortes tagtäglich den Kopf hinhalten, machen sich längst keine Illusionen mehr. Sie wissen genau: Sie haben keine Lobby. Daß ihnen diese in ihrem eigenen Land fehlt, verwundert kaum. Denn hier regiert außer Lukaschenko wieder die nackte Angst. Vielen, durch jahrelange Unterdrückung ihrer Geschichte und Kultur entfremdet, erscheint es folgerichtig, sich hinter einen Mann zu stellen, der sich unter dem Deckmäntelchen des Patriotismus als Stifter einer sowjetischen Identität geriert.

Wohl nicht zuletzt der Rückhalt, den Lukaschenko noch in der Bevölkerung genießt, macht es im Westen leichter, in Weißrußland lieber nicht allzu genau hinzusehen. Diese Augen-zu-Taktik der westlichen Staaten hat auch noch ganz handfeste Gründe. Im Gegensatz zu Rußland oder der Ukraine ist Weißrußland, wo 90 Prozent der Betriebe noch in Staatsbesitz sind, für westliche Investoren uninteressant. Und Lukaschenko wird auch alles tun, damit dies noch möglichst lange so bleibt. Denn dies hat zudem den angenehmen Nebeneffekt, daß Investoren beim Abschluß lukrativer Verträge nicht auch noch Gefahr laufen, die Standardfloskeln über die desolate Situation der Menschenrechte von sich geben zu müssen.

Auch geopolitisch gesehen kann Weißrußland getrost vernachlässigt werden. Denn längst führen schon nicht mehr alle Wege in den Osten über Minsk. So hat sich auch die vage Hoffnung einiger Oppositioneller, der Westen könne über Rußland Druck auf Lukaschenko ausüben, nicht bewahrheitet. Warum sollten Bonn, Paris und Washington ausgerechnet wegen Weißrußland neue Unstimmigkeiten mit Boris Jelzin und Co. riskieren? Und das gerade jetzt, nachdem Rußland in Sachen Nato-Osterweiterung so erfolgreich über den Tisch gezogen wurde und mittlerweile auch die hartnäckigsten Kritiker in Moskau leiser treten?

Wenn von den westlichen Regierungen schon nichts zu erwarten ist, müssen eben andere das Heft in die Hand nehmen. Im Klartext kann das nur heißen: Öffentlichkeit schaffen, wo immer es geht. Und die unabhängigen Organisationen, die einzigen „Inseln“ der zivilen Gesellschaft, gezielt unterstützen. Denn noch gibt es sie. Aber vielleicht tritt ja auch die Voraussage von Gennadi Karpenko ein. Der Vizepräsident des letzten legitimen weißrussischen Parlaments und seit neuestem Vorsitzender eines Koordinationskomitees der Opposition, warnte unlängst in einem Interview mit der russischen Tageszeitung Iswestia vor Lukaschenko. Der weißrussische Präsident werde auch in Rußland an die Macht kommen, wenn man ihn nicht aufhalte. Dieser Appell dürfte, wie alle anderen vor ihm, weitgehend ungehört verhallt sein. Doch, was soll's. Möglich, daß sich Karpenko irrt. Wenn nicht, hätte die Presse wenigstens wieder eine Schlagzeile. Barbara Oertel