: Stuhlbein im Auge
■ Saugut: Ein 43jähriger Wurm schaut auf die Welt und bereichert die Kunstgeschichte mit intelligentem Quatsch
Zuerst der Kopf. Dann der Oberkörper. Die Arme. Jetzt wird es schon eng. Hinhocken: Gute Idee. Jetzt paßt der Hintern hinein, die Knie. Bleiben noch die Füße. Erwin Wurm müht sich redlich. Aber vergeblich. Die Füße, sie wollen partout nicht mehr hinein in den großen braunen Karton. Müssen sie auch nicht, denn die Skulptur „Karton mit Füßen“ist auch so vollkommen. Vollkommen verrückt, vollkommen schräg, vollkommen stupide. Kurzum: Saugut, und das vollkommen.
Erwin Wurm meint es völlig ernst. Ein Stuhlbein mitten im Auge, zwei Tischbeine auf den Füßen, drei übereinander gestapelte Apfelsinen – die Skulptur im Zeitalter ihrer zeitgeschichtlich bedingten Antiquiertheit hat nur eine Chance auf Daseinsberechtigung, wenn sie dem Alltag und seinen Gegenständen ungewöhnliche Perspektiven abtrotzen kann. „One Minute Sculptures“, eine Ausstellung mit 40 Skulpturen des Österreichers, die im Künstlerhaus am Deich zu sehen ist, bietet reichlich Anschauungsmaterial für den eigenartigen Blick eines 43jährigen Wurms auf die Welt.
Wer die Galerie betritt, sucht jedoch zunächst vergebens. Keine Podeste, keine glasigen Schaukästen: Wenn man es ganz nüchtern betrachtet, kann man zu der nicht unbegründeten Meinung kommen, daß der Raum sogar ziemlich leer ist. Ehe man aber frustriert von dannen schreitet, sollte man einen neugierigen Blick auf den Fernsehschirm am linken Rand der Galerie werfen. Denn die Galerie, sie ist zusammengeschrumpft auf die Größe einer Videokassette, und dort findet man sie, die One Minute Sculptures, gemeißelt in ein 60minütiges Band und gebannt auf 34 Fotoabzüge, die an den Galeriewänden hängen.
Mit der traditionellen Vorstellung einer Skulptur kommt man also nicht weit im Werk Erwin Wurms. „Wenn ein Mensch in einem Raum steht, ist das eine Aktion oder eine Skulptur?“, fragt Wurm. Und wenn in Wurms Arbeiten eine Banane zwischen zwei Schranktüren, ein Ei zwischen Speerholzplatten oder ein Brötchen zwischen Tür und Rahmen steckt, sind das dann originelle Stilleben? Neuartige Skulpturen? Oder ist das einfach nur Quatsch?
Quatsch ist es auch, aber eben kein einfacher. Intelligenter Quatsch, eine, wie der Wiener Wurm es nennt, „Stupidität, die etwas Neues aufbrechen läßt.“Wie der Surrealismus sucht Wurm die Erkenntnis in der Verfremdung, wie die Neodadaisten der Fluxusbewegung spielt er mit den hehren Ansprüchen der Tradition und der bleiernen Schwere des von altersher tradierten Kunstverständnisses. Wurms modernes Skulpturenprojekt bricht so zwar mit den üblichen Sehgewohnheiten, doch im Grunde rebuchstabiert er „nur“den Begriff der Skulptur unter den technischen Bedingungen der Moderne. Auf Film statt in Stein, zwei- statt dreidimensional: Die quasi ewige Präsenz, die die klassische Skulptur durch den Einsatz massiver Materialien zu realisieren suchte, erreicht Wurm durch die Möglichkeiten der Technik.
Zugleich löst er sich von den geradezu aseptischen Perfektionsansprüchen, mit denen Kunstwerke in aller Regel konfrontiert werden. Das Video zeigt nämlich nicht nur die Endprodukte des künstlerischen Prozesses – eine Frau, auf deren Kopf eine Teekanne steht, eine Klobürste, auf deren Stil eine Kartoffel schwebt, oder ein Mann, der in Sitzhaltung auf dem Kopf steht und auf seinem Hintern einen Stuhl balanciert – es zeigt auch die zahlreichen mißlungenen Versuche auf dem Weg hin zum Endprodukt.
Wurm fällt von den zwei Bällen, auf denen er zu stehen, und rutscht vom schmalen Balken, auf dem er zu liegen sucht, und auch die Eimer purzeln mehr als einmal zu Boden, ehe sie eine akurate Kette zwischen der Wand und Wurms Kopf bilden. Die Statik des gelungenen Moments bildet einen Kontrast zur Dynamik des wiederholten Scheiterns, das die traditionelle Skulptur ja immer zu verbergen sucht. Oder kennt jemand die zahllosen Marmorblöcke, die zu Kieselsteinen gebröselt wurden, ehe Michelangelo aus dem Einen den David schuf? Es gibt einiges zu entdecken in Wurms wirrer Welt. zott
Bis zum 20. Dezember im Künstlerhaus am Deich
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen