■ Vorschlag: Messer in Bildern oder Chirurgie einer Stadt in der Kunststiftung Poll
Die Schlachteplatte ist angerichtet. Gut 70 Messer aller Art, zwei Hackebeilchen, einen Kartoffelschäler und eine Bratengabel hat der Berliner Fotograf Karl-Ludwig Lange 1995 zu einem Stilleben drapiert. Groß aufgezogen hängt dieses Foto an zentraler Stelle in der Ausstellung „Anderer Blickwinkel IV“ in der Galerie in der Musikschule/Kunststiftung Poll, deren Mittelpunkt die Arbeiten von Karl- Ludwig Lange über „Berlin im Umbruch“ bilden.
Messer in Bildern: Das Stilleben paßt gut zu den ausgewählten Arbeiten. Seit einem Vierteljahrhundert fühlt Lange den Puls Berlins und dokumentiert den Wandel von der maroden Metropole zur vermeintlich bald schicken und reanimierten Hauptstadt. Es gibt da viel zu tun. Nicht nur das Leben, auch Berlin ist eben eine (einzige) Baustelle. Die Auferstehung einer Stadt hält Lange mit der Kamera fest. Da sind Bilder, die zwischen 1994 und 1997 entlang der Schönhauser Allee und rund um die Oranienburger Straße entstanden. Nichts als aufgewühlte Straßen, Bauzäune, Krane, Absperrungen, Baugruben, Hinweisschilder. Eines weist den Weg zum Chirurgen. Dabei gleicht ganz Berlin einer Chirurgenstation.
Des Stadtchirurgen Handwerkszeug Foto: Karl-Ludwig Lange
Karl-Ludwig Lange erweist sich einmal mehr als der stille, der leise Dokumentarist. Seine Schwarzweißfotografien sind nicht schnell aus der Hüfte geschossen. An den Brennpunkten der Geschehnisse, die einst in der „Berliner Republik“ endeten, hat er sich postiert. Und neben den urbanen Buddeleien auch Menschen eingefangen, die an den Baugruben, den herumliegenden Straßenbahngleisen, den „chirurgischen Eingriffen“ vorbeihetzen – Sequenzen von Unrast. Nur die fünf Aufnahmen des Areals am Potsdamer Platz strahlen Stille aus. Denn sie stammen aus einer Zeit – der Zwischenzeit –, als die Mauer schon offen war, der Platz aber noch lange nicht als größte Baustelle Europas galt.
Im zweiten Teil der Ausstellung sind Arbeiten von Harald Duwe, Paolo Baratella, Fritz Cremer, Julio Paz und Peter Sorge zu sehen. Da sind zum Beispiel die vier düsteren realistischen Bilder Duwes, die die Qualen der Holocaust-Opfer thematisieren: Gedärme, Blut, Leiden, Tod. Daneben eine Figur Cremers, die an die „Meister des Todes“, die KZ-Aufseher, erinnert. Andreas Hergeth
Bis 3.12., Galerie in der Musikschule/Kunststiftung Poll, Gipsstraße 3, Mitte, Di.–Fr. 15–19, Sa. 12–16 Uhr
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