: Man schämt sich, hinzugucken
■ Hundert Zeilen Kuhlbrodt: Alle verängstigten Dinge werden gezwungen zu sagen, daß es ein schlechter Tag ist heut in Kreuzberg. Deshalb sehen die Gesichter auch alle naßkalt und grau aus
Manchmal, wenn verschiedene Tiefdruckkomplexe schon zu lange das Wetter bestimmen und es draußen ganz fürchterlich ist, möchte man nicht eimal mehr gar nichts machen. Da es den „ungeleiteten Gefühlen des modernen Menschen“ jedoch an „Kompetenz“ mangelt, wie schon Walter Benjamin wußte, und man den neu ausgedachten Megatrend „Nesting“ völlig bescheuert findet, geht man raus, um ein bißchen was zu essen.
Die Pizza im Imbiß schmeckt angefault. Oder wunderlich. Wie man will. An manchen Tagen herrscht mit „Wollust“ die „Bedeutung als finsterer Sultan im Harem der Dinge“ (Benjamin). Alle verängstigten Dinge werden dann gezwungen zu sagen, daß es ein schlechter Tag ist heut in Kreuzberg. Deshalb sehen die Gesichter der Kreuzberger auch alle naßkalt und grau aus. An der Tür des kleinen Sexladens in der Mittenwalder klebt ein Kuckuck. Sehr hoffnungsfroh war der Wiener Besitzer noch bei bei der Eröffnung gewesen.
Eine junge Punkerin vor der Post am Halleschen Tor geht zum Pissen und hat keine Lust, sich dabei zu verstecken. Ein Obdachloser entschuldigt sich minutenlang, bevor er nach einer Zigarette fragt. Als ich keine habe, wünscht er mir unterwürfig alles Gute.
Irgendwie stimmen einen die Worte auf den Plakaten, Türen oder Wänden in dem, was früher mal 61 hieß, auch eher trist: „Englisch in Irland – T irisch gut“, „Ralf Bergmann, zahl deine Schulden!“, „Hanf statt Kohl“, „Eintritt nur für Vereinsmitglieder“, „Ayan did the right thing“, „Herren – 20,– – mit Phönen“, „Tapsige Mischlingshunde“.
Am Ufer vor dem Urban-Krankenhaus liegt ein Kneipenblockzettel auf dem Boden: „Ulli ich war heute bei Horst Moni liegt im Virchow Wedding auf der Intensiv Station Haus 4 Station 9 Laß uns beide mal hingehen. Tschüs.“ Schrift und fehlende Interpunktion deuten darauf hin, daß der oder die VerfasserIn nur selten was aufschreibt.
Die beiden Skelette, die sich ein paar Jahre so krude symbolisch vor dem Görlitzer Bahnhof umarmt haben, sind auch längst vermutlich auf Initiative des CDU-nahen Vereins „Nofiti“ weggemacht worden.
Am Ende des Bahnsteigs am Kotti liegen rote Rosen. Davor steht eine rote Kerze, die das gerahmte Farbbild einer Frau beleuchtet. Die Frau steht vor einer Blumenhecke und dürfte Ende Fünfzig gewesen sein, als das Foto gemacht wurde. Vom Fahrtwind wird die Kerze ausgeblasen. Das Bild kippt auch um. Im Juni 95 wurde es gemacht. Wahrscheinlich hat sie sich vor kurzem erfolgreich mit der U-Bahn umgebracht.
Auf dem Boden liegt eine Flasche „Jagdstolz“-Kräuterlikör. Der Mann auf der Bank hat einen riesengroßen Kopf und ist in viele bunte Decken gehüllt. Man schämt sich, dauernd da hinzugucken, und macht es doch.
„Alles, was wir sehen“, sei „eine Art Zeichensprache, welcher allerdings das Wesentlichste: die Übersetzung, fehlt“, schrieb der Romantiker Franz von Baader 1851. „Ich würde mir wünschen, daß die Berliner das, was hier entsteht, selbst noch positiver und freudiger aufnehmen“, findet die Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit. Deshalb geht sie nach Hamburg. Detlef Kuhlbrodt
wird fortgesetzt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen