piwik no script img

Und allen wird's so warm ums Herz

Der Ortsverein aus Zwickau hält's mit Schröder, die Senioren aus Leverkusen hätten lieber Lafontaine – in Hannover spielt das keine Rolle: Willig folgen die Delegierten auf dem SPD-Parteitag der Inszenierung von Harmonie und Aufbruch  ■ Von Andrea Böhm

Wer immer das Bühnenbild für diesen Parteitag entworfen hat, muß eine Faszination für Raumfahrt haben. Tiefes ozeanisches Blau, von dem sich die helleren Konturen der Kontinente abheben. So muß an schönen Tagen auch der Blick aus dem Fenster der „Columbia“-Weltraumfähre aussehen – sieht man einmal von den beiden roten Leuchttürmen ab, die das Bild einrahmen und in diesem Blau der Globalisierung sozialdemokratische Orientierung symbolisieren sollen.

Die Sache mit der Orientierung seiner Partei geht Helmut Scharf gern etwas konkreter an. Nicht gerade zierlich, weil von imposanter Leibesfülle, aber standfest streckt er den rechten Fuß hervor, zupft mit den Fingern das Hosenbein hoch und gibt den Blick frei auf Socken in mattem Grau-Grün – durchsetzt mit kleinen bunten Trabis. Dazu stellt er eine Flasche „Trabi Deluxe“-Bier auf den Tisch und verteilt auf dem SPD-Parteitag in Hannover klitzekleine Spielzeug-Trabis. Helmut Scharf kommt, wie unschwer zu erraten ist, aus Zwickau, wo er einen privaten Sicherheitsdienst leitet, wenn er nicht gerade neue SPD-Mitglieder im Kampf gegen die sächsische CDU-Übermacht rekrutiert. Die Frage nach der zukünftigen Richtung der SPD versteht er zuerst einmal geographisch: Rüber, in den „Nahen Osten“, denn da „gibt's für die SPD im nächsten Wahlkampf mehr zu holen als im Westen.“

Die Frage ist nur: Wie? Noch hat man die Ovationen im Ohr, die Oskar Lafontaine für seine Parteitagsrede erhielt, in der er Balsam auf die Wunden all jener rieb, die sich und ihre Partei durch die Schrödersche Lust am Tabubruch und am Opportunismus, aber auch durch den allgemeinen Reputationsverlust des Sozialstaats leiden sehen. Jetzt stand endlich wieder einer auf – den Planeten im Rücken und rund 500 erwartungsvolle Delegierte vor sich – und sprach mit Leidenschaft aus, wofür man sich andernorts mindestens den Vorwurf der Naivität, wenn nicht der Rückständigkeit einhandelt. „Soziale Verantwortung“ als erstes Gebot für Wirtschaftsunternehmen, ein „gut ausgestatteter Staat“ als primäre Aufgabe der Politik, eine „Brücke ins Solarzeitalter“ als ökologische Perspektive. Und „Shareholder value“ oder „angebotsorientierte Politik“ als Schimpfworte.

Da wurde fast allen in der Messehalle so richtig warm ums Herz – auch den Jusos, die in einheitlich knallroten Latzhosen daherkamen wie eine Handwerkerkolonne. Bloß Norbert Gansel, ehemals SPD-Bundestagsabgeordneter und mittlerweile Bürgermeister in Kiel, nickte zwischendurch ein – wahrscheinlich ermüdete so viel leidenschaftliches Bekenntnis zum Sozialstaat, wenn daheim ein gewaltiger kommunaler Schuldenberg wartet.

Gerhard Schröder machte gute Miene zu welchem Spiel auch immer und haute Lafontaine auf die Brust – von Mann zu Mann. Helmut Scharf klatschte Beifall und dachte gleichzeitig an die 42 Mitglieder seines Ortsvereins Zwickau-Land, unter denen sich Lehrer und der Geschäftsführer des Johanniterbundes, aber keine Arbeiter befinden. „Arbeiter“, sagt Scharf, der auch Mitglied des SPD- Parteirats ist, „kriegt man erst dann wieder in die SPD, wenn man sich auf die Wirtschaft konzentriert.“ Dann outet er sich ein bißchen verschämt als „Schröder- Mann“.

Soviel Wohlwollen gegenüber dem Unternehmertum wie in Zwickau-Land bringt man in der „AG 60 plus“ des SPD-Unterbezirks Leverkusen nicht auf. Hier wird keine Brücke ins Solarzeitalter, sondern zu den Senioren der Partei geschlagen. Mia Wevers zum Beispiel, 72 Jahre alt, die ein Arbeitsleben als Metzgereigehilfin, Weberin, Verkäuferin und Putzfrau hinter sich hat und nach dem Tod ihres Mannes vor fünf Jahren in die Partei eingetreten ist. Inzwischen hat sie vier Vorstandsposten „am Bein“: Bei „60 plus“, im Ortsverein, im Unterbezirk und im Seniorenring. Das erzählt sie mit der quietschfidel gespielten Verzweiflung einer älteren Dame, die sich an der Haustür zu viele Zeitschriftenabonnements hat andrehen lassen.

Um so verdutzter ist man, wenn sie plötzlich sagt: „Das Kapital ist ein gefräßige Ratte.“ Oskar wäre ihrer Meinung nach schon der Richtige, um sie einzufangen. Aber leider sind die Meinungsumfragen nicht ihrer Meinung, weswegen dann wohl Gerhard ran müßte, den Oskar wiederum einfangen könnte. Aber genausowenig wie Helmut Scharf möchte sie auf diesem Parteitag eine Personaldebatte führen.

Alles, was auch nur annähernd als öffentlicher Streit interpretiert werden könnte, erinnert an den Mannheimer Parteitag von 1995, als Rudolf Scharping, zu dessen 50. Geburtstag Oskar Lafontaine in Hannover ein massenhaftes „Happy Birthday“ anstimmen läßt, durch den Saarländer aus dem Amt des Parteivorsitzenden „geputscht“ worden war. Damals konnten die Delegierten weit mehr über die Zukunft ihrer Partei entscheiden als jetzt in Hannover. Aber das Trauma, vor zwei Jahren in der Öffentlichkeit ein Bild des totalen Chaos geboten zu haben, wiegt so schwer, daß die meisten den Gesetzen der Inszenierung und der Lafontainschen Devise, „Es darf in Hannover nur Gewinner geben“, gerne folgen. Vor allem darf es 1998 nur einen Verlierer geben, sonst gerät Mia Wevers „in 'ne totale Krise. Wenn Kohl es noch einmal schafft, geht das Land unter. Möchten 'se 'nen Kognak?“

Wevers vertritt mit einigen anderen die Leverkusener Senioren inmitten der obligatorischen Parteitagsausstellung „Der lebendige Ortsverein“. Von denen hat die SPD insgesamt 12.000. 130 wurden für lebendig genug befunden, in den Hallen ihre Basisarbeit vorzustellen. Das Ganze wirkt wie eine Mischung aus Weihnachtsmarkt und Zimmerolympiade und gewährt einen Blick darauf, was die Partei manchen Menschen alles sein kann: Familienersatz, Witwentröster, Karrieresprungbrett, Sportverein und politische Heimat.

Der Unterbezirk Marburg-Biedenkopf stellt seine Homepage vor. Der Ortsverein Hirzenhain vertreibt seine knetbare Lederbirne und den SPD-Bildschirmschoner. Der Ortsverein Pobershau im Erzgebirge preist seinen Mitgliederanstieg von 9 auf 13 dank einer geheimnisvollen Rechnungsart als einen „Zuwachs von 144 Prozent“ und distanziert sich gleichzeitig von den rechtsextremen Aktivitäten einiger Bundeswehrsoldaten in der nahegelegenen Kaserne Schneeberg, da dort erstens nicht nur Erzgebirgler stationiert seien, und einem zweitens „in der freien Marktwirtschaft die Kinder schon mal aus dem Ruder“ gerieten. Der Ortsverein Siegen- Geisweid sichert sich kontinuierliche Aufmerksamkeit durch den Ausschank von „Krombacher“- Bier.

Die sozialdemokratischen Unternehmer präsentieren sich in unmittelbarer Nähe zum Ortsverein Bendorf bei Koblenz, vertreten durch seine Arbeitsloseninitiative, die sich mit ABM-Geldern, Spenden und Vereinsbeiträgen in eine Dienstleistungsgesellschaft umgewandelt und 22 Arbeitsplätze geschaffen hat – sozialversicherungspflichtig und nach Tarif bezahlt. Dort steht Wolfgang Müller, seit 20 Jahren SPD-Mitglied, ehemals Betriebsschlosser, jetzt Geschäftsführer der Dienstleistungsgesellschaft, und macht sich bei 15 Prozent Arbeitslosigkeit in seiner Region keine Illusionen. „Die Zeiten der Vollbeschäftigung sind vorbei.“ Darüber hätte Lafontaine, den er im Prinzip mehr schätzt als Schröder, in seiner Rede ein paar Worte verlieren können.

Ein paar Buden weiter hat sich der „Kreis innovativer Sozialdemokraten“ aufgebaut, was gut paßt, denn „Innovation“ ist neben „Gerechtigkeit“ das Motto dieses Parteitags. Bloß sehen die jungen Herren um die 30 ziemlich frustriert drein, als Niedersachsens Umweltministerin Monika Griefahn fragt, was denn innovativ an der Partei sei. „Nichts“, antworten sie. Sie haben die Nase voll von „68er Blockierern“ und nordrhein- westfälischem „Filz-Kameradismus“, von Strukturkonservativismus und 55jährigen, die ihre Parteikarriere als „Erneuerer“ machen. „Die Alten fahren den Karren an die Wand“, sagt einer, „und die Jungen kommen nicht zum Zuge.“ Doch an der frohsinnigen Energie der SPD-Ministerin prallen ihre Enttäuschungen ab. Griefahn hatte sich 1988 ein Jahr lang das politische Chaos der damals noch sowjetischen Duma in Moskau angesehen und ist seitdem von den politischen Strukturen und der Parteienlandschaft in Deutschland unverdrossen beeindruckt. Aber was für Griefahn die Duma, ist für die jungen Innovativen die SPD- Bochum. Am Ende halten sie immerhin eine Einladung ins niedersächsische Umweltministerium in der Hand. Damit sie mal was anderes sehen.

In der Tagungshalle verliert unterdessen Herta Däubler-Gmelin den Kampf um einen der fünf Stellvertreterposten für den Parteivorsitz, erst gegen die bayerische SPD-Chefin Renate Schmidt und dann gegen Heidi Wieczorek- Zeul, wobei niemanden wundert, daß die Frauen gegeneinander antreten müssen, während Johannes Rau, Rudolf Scharping und Wolfgang Thierse im Durchmarsch und ohne Konkurrenz wiedergewählt werden.

Zu diesem Zeitpunkt hat die allgemeine Aufmerksamkeit ohnehin nachgelassen – man ist im Geiste bereits beim kalten Büffet des Parteiabends. Das verwundert Zarko Korać von der „Socijaldemokratska Unija“ aus Serbien, denn Disziplin hielt er bislang für eine deutsche Tugend. „Wenn es bei uns auf dem Parteitag einen Kampf zwischen den beiden Spitzenpolitikern gäbe, dann säßen aber alle stramm und still bis zum Schluß auf ihren Stühlen.“ Zusammen mit Vertretern der sozialdemokratischen Parteien Kroatiens, Bosniens, Sloweniens, Montenegros, der Wojvodina und aus dem Sandžak ist er von der deutschen SPD eingeladen worden. Im Pulk sitzen sie auf der Gästetribune, diskutieren und witzeln auf „exjugoslawisch“. Korać amüsiert sich köstlich über die T-Shirts mit dem Schriftzug „KMW – Kohl muß weg“, der unter einen Dinosaurier gesetzt ist. Mit dem Slogan „Die Dinosaurier müssen weg“ sind sie in Belgrad wochenlang gegen Slobodan Milošević auf die Straße gegangen. „Der Unterschied ist bloß: Unser Dinosaurier frißt Fleisch, eurer bloß Pflanzen.“ Manchmal frißt er auch Saumagen.

Dann leert sich die Halle. Der Vertreter der Deutschen Krankenversicherungs AG, der wie Audi und die Volksfürsorge die Delegierten umwirbt, packt sein Gerät zur Körperfettanalyse weg. Ganz hinten in der Ecke hängt ein selbstgemaltes Plakat über die Angebote der SPD-Parteischulen von 1906 bis 1913. Rosa Luxemburg unterrichtete Nationalökonomie, Franz Mehring deutsche Geschichte. Heute haben die Seminare Titel wie „Management und Bürokommunikation“ oder „Train the Trainer Metaplan“. Für das kommende Jahr bieten die Parteischulen den Fortbildungshungrigen wahlkampforientierte Seminare wie Telefonmarketing an. Sie wollen halt gewinnen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen