: In die West Side mit dem Weichzeichner
■ Schöner scheitern: Rosamund Gilmore inszeniert Leonard Bernsteins Musical „West Side Story“am Goetheplatz
Da ziehen sechs Jugendgangster-Darsteller ihre Hosen runter, recken dem Publikum ihre entblößten Ärsche entgegen, und die Zielgruppe applaudiert amüsiert. Was ist nur los mit diesem Theater, das sich ansonsten wegen eines zerschmetterten Plastikhuhns und wegen herumgespritzten Biers die bittersten Vorwürfe gefallen lassen muß? Ganz einfach: Das Musical ist los, und in diesem Spiel sind die Regeln eben anders. Das große Haus am Goetheplatz serviert Leonard „Lenny“Bernsteins „West Side Story“– auf zu Tisch, es ist zum Struwwelpetern!
Immerhin verschafft das Bremer Theater dem geschätzten „Theatre du Pain“-Akteur Mateng Pollkläsener einen Job. Breitbeinig und die Arme john-waynig über den fiktiven Pistolenhalftern, stakst er als Officer Krupke über die Bühne. Er erfindet einen Inbegriff des uniformierten US-Polizisten und ist in seinem unzähmbaren Urwuchs eine so auffällig gute wie aus dem Rahmen der Inszenierung fallende Erscheinung.
„Wir werden die Gattung Musical nicht den Kommerziellen überlassen“, sagen so oder ähnlich die Intendanten der öffentlich unterhaltenen Theater und setzen – wie in Bremen – einmal im Jahr solch ein Singspiel an. In einem Sujet, in dem die kommerziellen Produzenten oder einige von ihnen absahnen, antworten die Stadttheater mit ihrem Argumentationsgeschlinger: Einerseits „auch mal“gute Unterhaltung bieten wollen zu müssen und andererseits gesellschaftlich relevante Kunst auszustellen. Folglich wimmeln Vorberichte und Programmheft der Bremer „West Side Story“von Bezügen zu Jugendgewalt und Rassismus. Das Drumrum und einige Graffiti drinnen im Bühnenbild beschwören die Aktualität von Jerome Robbins und Arthur Laurents vierzig Jahre alter Story. Die Inszenierung dieser modernisierten Romeo-und-Julia-Geschichte vom heißen Tanz auf der Gewaltspirale, von wenig Liebe und viel Haß begibt sich aber mehr als auf den halben Weg dorthin, wo die anderen Kasse machen.
Das Bremer Manhattan ist ein Quartett von Autotürmen. Carl Friedrich Oberle hat mit den Chevie-Käfer-Stapeln nach Angaben eines Theatersprechers das „aufwendigste Bühnenbild“in der Geschichte des Hauses entworfen. Wir haben es nicht nur mit einem Superlativ und mit dem Fall zu tun, daß das Bremer Theater in einer anderen Liga mitspielen will, ohne sich seiner Rolle richtig sicher zu sein. Gegen den Hubschrauber aus dem Rührstück „Miss Saigon“setzt der Bühnenbildner Oberle einen von der Decke herabschwebenden Schulbus. Doch der sieht im Gegensatz zu den Auto-Türmen zu sehr nach Plastik aus. Oberle will auf Effekt und auf Botschaft zugleich setzen: Es sind Schulkinder, die sich da an die Gurgel gehen, und diese Message wäre einen Schulbus wert, wenn da jemand dem anderen wirklich an die Gurgel ginge.
Es gibt ein Spartenproblem. Die aus dem Opernensemble können nicht richtig sprechen, die aus dem Schauspiel nicht richtig singen, und dann verlangt so ein Musical dem Personal meist auch noch tänzerische Fähigkeiten ab. Da hat das nach Ansicht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lebendigste Theater Deutschlands diesmal Konsequenzen gezogen und gleich zwei Dutzend Gäste angeheuert. Und wahrlich, diese Gäste, die sich nahtlos um die aus dem Opernensemble rekrutierten HaupstdarstellerInnen gruppieren, verstehen ihr Handwerk.
Ganz offensichtlich zeigt der Erfolg der kommerziellen Musicals Wirkung: Auch Deutschland bringt inzwischen diese singenden, tanzenden und sprechenden AllrounderInnen hervor. Es sind meist beeindruckend talentierte junge Menschen, die in den Schulen der Unterhaltungsindustrie zu Allzweckwaffen geklont werden. Egal, ob in der Etappe des Vietnamkriegs („Miss Saigon“), als Geächtete im vorrevolutionären Paris („Les Miserables“) oder jetzt als Kids in den schlechten Gegenden der West Side: Ihr Auftreten und ihr Können gehorchen der immergleichen Anforderung, eine gute Show zu zeigen. So wirken sie immer, als kämen sie aus gutem Hause, und auch die Bösewichte hat man nicht erst am Ende ganz doll lieb. Der Kommerz hat das Musical in Weichzeichner verwandelt, und Rosamund Gilmore, die Regisseurin der Bremer „West Side Story“, unternimmt nicht viel, sich davon abzusetzen.
Überhaupt Rosamund Gilmore: Ihr Goetheplatz-Debüt gab sie mit einer genialen Inszenierung der Hölszky-Oper „Bremer Freiheit“. Hier choreographiert sie vor allem vor der Pause bildschöne und wirkungsvolle Tanzszenen, jongliert durchaus gekonnt zwischen kleiner Szene und großem Auftritt, und doch gelingt es ihr nicht, aus dem Stück Funken zu schlagen. Zu wenig bedrohlich sind Gewalt und Haß, zu süßlich dagegen ist das Liebesmotiv (gleichwohl anrührend: Laura Perdersen als Maria und Stefan Vinzberg als Tony; großartig und vom Premierenpublikum zu Recht gefeiert: Daniela Sindram als Anita).
Das mit den Funken gelingt dem von Kapellmeister Rainer Mühlbach dirigierten Rumpforchester schon eher. Der eher kleinen Besetzung wegen kommt die Musik zwar nie als Faustschlag im Saal an, doch man hört Mühlbachs Mühen, den PhilharmonikerInnen Jazztöne beizubringen. Bernsteins unverwüstlicher musikalischer Melting pot wirkt häufig energischer und frischer als die Aktionen auf der Bühne. Denn insgesamt kommt diese nach der Pause an Kraft verlierende „West Side Story“nicht über eine gute Unterhaltung hinaus. Für ein Theater wie das Theater am Goetheplatz ist das viel zu wenig.
Christoph Köster
Weitere Aufführungen: 12., 22. und 28. Dezember um 19.30 Uhr, 31. Dezember um 16 und 20 Uhr
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