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Luxus schwächt den Jagdgeist

■ John Neumeier choreographiert Léo Delibes' „Sylvia“mit psychologischem Profil

„Any space can be danced in...“, sagte der amerikanische Choreograph Merce Cunningham in den Sechzigern und meinte wirklich jeden Ort vom Dach bis zur Tiefgarage. Natürlich kann auch im Opernhaus getanzt werden. Aber dann heißt der Tanz Ballett.

Der Premiere des Balletts Sylvia in der Choreographie von John Neumeier am Sonntag an der Hamburgischen Staatsoper ging jene an der Pariser Oper am 30. Juni diesem Jahres voraus. Dort fand auch 1876 die Uraufführung statt. Sylvia ist inzwischen also 121 Jahre alt, das Libretto geht auf ein Drama Torquato Tassos aus dem 16. Jahrhundert zurück – warum solche Ausgrabungen? „Wenn überhaupt, dann Sylvia“, hatte Neumeier leichthin auf einer Pressekonferenz in Paris geäußert, als er zu realisierbaren Neufassungen traditionsreicher Repertoirestücke des Hauses, will sagen, zu tatsächlich alten „Ballett-Schinken“befragt wurde. Und man nahm ihn beim Wort.

John Neumeier reduzierte das unsägliche Handlungsknäuel um Götter, Schäfer, Jäger und Nymphen auf wenige Hauptlinien, stockte die Solistenreihe von drei auf fünf auf und gab ihnen psychologisches Profil sowie menschlichen Handlungsspielraum. Sylvia (überzeugend: Heather Jürgensen) geht erst durch die erotische Schule des Orion (Otto Bubenicek), um dann auch Aminta (sehr brav: Ivan Urban) lieben zu können. Doch die Idee der Keuschheit will sich beim besten Willen nicht mehr so recht transportieren lassen, und so sind die Auftritte des amazonengleichen Frauenbunds jungfräulicher Nymphen im Gefolge der Göttin Diana – mit Sylvia als deren Anführerin – die schwächsten, vergleichbar den wenig jagdfreudigen Halali-Passagen in der Musik Léo Delibes'.

Die Uraufführung zeigte ein dreiaktiges Werk zur Choreographie von Louis Mérante, der es sich, damals 48jährig, nicht nehmen ließ, auch die Hauptrolle des jugendlichen Schäfers Aminta zu tanzen. Diese Idee wurde nicht aufgegriffen, wohl aber die Dreiteilung. Neumeier gelingt eine von der Musik (musikalische Leitung: Vello Pähn) getragene moderne Adaption, in der sich Sylvia nicht mehr vom Jäger Orion vergewaltigen lassen muß, sondern durch Luxus und schöne Fassaden geblendet, gekauft und somit für die irdische Welt gewonnen wird.

Das Bühnenbild von Yannis Kokkos beeindruckt: So angenehm bunt und blendend wurde in der Hamburger Oper selten vom Tanz abgelenkt (im 1. Akt), um ihn dann um so klarer (2. Akt) zu unterstützen. Der 3. Akt läßt Bewegung und Bühnenbild gleichwertig nebeneinander stehen, verrät ansonsten den Einfluß des Choreographen Mats Ek.

Während Tanz sowohl subjektive Körpersprache als auch Ausdruck gesellschaftlicher Bedingungen ist, ist Ballett erst mal eine Sparte des Opernbetriebs. Manchmal wird aus Ballett eben doch ein Stück Tanz. Dagmar Fischer

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