Geschichte im Zeitraffer

■ Gute Ideen, teilweise überzeugend: „Furor. 1.Teil“im Lichthof

Viel hat sich Regisseur Hans König vorgenommen. Das gesamte 20. Jahrhundert will er im nächsten Jahr auf die Bühne bringen, vom heutigen Standpunkt aus mit massenpsychologischen Deutungsmustern erklären, wie konkrete Biografien und epochale Ereignisse miteinander verwoben sind. Die Voraufführung des ersten Bildes – der Zeitraum bis 1918 – im Glashaus vermittelte bereits eine Ahnung davon, wie König diesen enormen Anspruch szenisch umsetzen will.

„Drei – Zwei – Eins – Silvester!“Menschen umarmen sich, feine Bürger bitten zum gesitteten Tanz, Proleten schunkeln im Schatten der Fabrikmaschine. Ein Sektchen, ein Bierchen, ein Küsschen: Unser groteskes Jahrhundert, so unschuldig hat es wohl begonnen. Die Bäckerin (Conny Geiger) knetet fröhlich singend den Teig, die edle Dame (Duglore Katz) nippt genüßlich an der Teetasse, und der Ingenieur (Uwe Leistner) herzt, verliebt wie er ist, überschwenglich seine Auserwählte (Anke Kümmel) auf der Straße. Doch die dunklen Triebe (Janine Jaeggi, Susanne Sasse, Thomas Schacht), noch eingesperrt im Verlies, sie rütteln in dieser ersten Silvesternacht bereits voller Vorfreude an den Gittern, ahnend, daß ihr blutiges Festmahl nicht mehr lange auf sich warten lassen wird. Die friedliche Banalität des Alltags, die stetig schwelende Sehnsucht nach romantischen Bootsfahrten, duftenden Bonbongläsern und ergreifenden Beethovenkonzerten, sie endet schließlich auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges. Die gerade Verliebten, Gesättigten und Träumenden, sie liegen in der letzten Szene von „Furor“in ihrem Blut, erschlagen vom eigenen Fanatismus und jener geheimnisvollen Macht, die Geschichte heißt.

Königs Inszenierung steckt voller ausgezeichneter Einfälle, lebt von der wunderbaren Musik Ulrich Böskings und Dirk Piezunkas, dem tadellosen Spiel der 30 DarstellerInnen, der detailverliebten Ausstattung, vom atmosphärisch für „Furor“wie geschaffenen Spielort – und verfehlt letztlich dennoch das selbstgesteckte Ziel. Die Vogelperspektive, die die ZuschauerInnen in der Empore des Glashauses einnahmen, erlaubte zwar einen detailreichen Blick zurück in die Historie, der aber kaum Zusammenhänge deutlich werden ließ. Männer dominieren das öffentliche Leben, Frauen bleiben im Hintergrund und füllen als Krankenschwestern und treu sorgende Hausfrauen die Löcher dieses patriarchalen Weltbildes – Königs Thesen sind nicht falsch, aber auch nicht sonderlich originell und nicht viel mehr als in Szene gesetzte Soziologie.

Daß der Abend dennoch interessant war, lag vor allem an den vielen ungewöhnlichen Ideen. An bis zu zehn Spielorten gleichzeitig entwickelte sich in Brechtscher Manier ein an typologisierten Figuren orientiertes Gesellschaftspanorama. Aus Alltag entwickeln sich Großereignisse. Im Spiel der Nachbarmädchens, in der Gangart des Gendarms oder den Interieurs der Bürgerstuben waren Klassenkampf, Geschlechterdifferenz, Kriegsbegeisterung und die Verklemmtheit des wilhelminischen Zeitalters omnipräsent, ohne daß es noch der Stimme des „Gedächtnisses“(Marion Becker, Stephan von der Decken) bedurft hätte, die aus Lexika zeitgeschichtliche Fakten in den Raum stießen.

So aber scheiterte „Furor“auf ziemlich hohem Niveau. Gemessen an diesem erfreulichen Zwischenstand kann das angekündigte Spektakel im nächsten Jahr nur großartig werden. zott