Erinnerung, zitiert, zerschnipselt, verklebt

■ „Total recall“: eine Tagung über das Einfrieren oder Warmhalten von Erinnerungen in Noten und vieles mehr

Erinnern und vergessen in der Musik. Durchdekliniert werden bei einer Tagung zu diesem Thema natürlich die verschiedenstenen Formen der Bezugnahme auf ältere Musik – vom ehrfürchtig-getreuen Zitat bis zur Vernichtung, unterschiedliche Möglichkeiten des Erinnerns an den Holocaust – durch schaurige, horrorfilmreife Klangräume oder Textzitate, Nutzen und Schaden des gnädigen Vergessens durch Musik ... Vor allem aber geht es um Persönlichkeiten. Erst Auge in Auge mit Komponisten, Interpreten, Wissenschaftlern wird deutlich, wie einzelne Standpunkte in einer komplizierten Musikerpersönlichkeit verankert sind und aus deren Fleisch herauswachsen.

Zum Beispiel Hans-Ola Ericsson bei der am Sonntag zu Ende gegangenen Veranstaltung „Total recall“: In bewunderswert ruhigem Redefluß fordert er mehr Zeit; größere Geduld des Interpreten für ein Stück, mehr Zeit des Hörers für eine Komposition – ein Gegenprogramm zum allgegenwärtigen Immer-mehr-immer-Neues.

Oder Dror Feiler, der mit breitem Stiernacken allen Kollegen absolute Bedingungslosigkeit abfordert: „Ein Komponist darf nur dann ein Stück schreiben, wenn er anders nicht überleben würde. Heute schreiben zu viele Komponisten Musik nur deshalb, weil sie eben Komponisten sind.“Eine völlig unakzeptable These, wenn man sich erinnert, wieviel Grandioses aus Halbherzigkeit geboren wurde. Allerdings auch eine faszinierende These, weil man spürt, mit wieviel Energie sie Feiler versorgt.

Jedenfalls verleitet diese erzromantische Überlebens-Kunst-Theorie Dror Feiler zu seinem Konzept der „brutal-sentimentalen Musik“. Solange nämlich die Welt brummt und surrt vor überflüssigen Klangerzeugnissen, kann es nicht die Aufgabe des Komponisten sein, ein weiteres Schnipsel zum kollektiven Gedächtnis hinzuzufügen. Zunächst einmal gilt es, akustische Müllberge zu sprengen. Aber der Kleister im Ohr verlangt nach scharfen Lösungsmitteln. Feiler versucht's mit Lärm. Den allerdings empfanden einige Tagungsgäste keineswegs als befreiend, eher als eine andere Art von großem Lauschangriff. Provokation allerdings ist es nicht, was Feiler sucht. Ein Mißverständnis, das die persönliche Begegnung auf einer Tagung aufzulösen vermag. Und tatsächlich erzählten dann einige Gäste von ihrem Spaß, die Herausforderung anzunehmen und nach Formen des Zuhörens zu forschen, wo keine antrainierten – erinnerten – Wahrnehmungsmuster mehr greifen: Was kann das Ohr mit so hohen Phonzahlen anstellen?

Eine besonders interessante Form des Wegschaufelns eingefleischter Hörgewohnheiten stellt Morton Feldmans 1. Streichquartett dar, ein zwei Stunden langer Widerspruch: absolute Ereignislosigkeit, angefüllt mit einem Übermaß an Nuancen. Wie geht's? Die Atomisierung der Musik in einzelne, von langen Pausen umgebene Töne verhindert jedes Eintauchen in Melodiebögen, knackige Rhythmen, psychologisierbare harmonische Bewegungen. Was bleibt, ist das nüchterne Konstatieren relativ gefühlsneutraler Parameter: die Länge eines Tons, seine hauchdünne Verschiebung im Vergleich zum Ton des Nachbarinstruments. Eine Schärfung der Wahrnehmung ist die Folge, vor allem aber eine neuartige Emotionalität – Zenmeditation oder Kants interesseloses Wohlgefallen.

Natürlich ging es auch um die neuen Sample-Techniken. Ganz unvermeidlich in Zeiten, wo digital zitiert – also erinnert – wird. Erzeugen die neuen Medien auch eine neue Message? Für den Komponisten Bernhard Lang sind sie nichts anderes als Handwerkszeug, „wie Papier und Bleistift auch“. Für Mathias Fuchs dagegen auch Ausdruck einer postmodernen, toleranten Gesellschaft. Allerdings ist, meint Fuchs, das Sampling auch verantwortlich für die Beschleunigung der Produktions- und Innovationszyklen. Denn es geht verdammt einfach und schnell.

Trotzdem können mit Sampling unendlich viele unterschiedliche Ziele verfolgt werden. Bob Ostertag etwa betreibt Leichenfledderei. Aus einem ungefügen, von Stoßseufzern zerfurchten Klagegewinsel eines Kriegswaisenkinds bastelt Ostertag eine angenehme, harmonische ambient music. Auch Klängen kann das Leben geraubt werden. Erinnern und verharmlosen – auch dies ein Kernthema der Tagung. Josef Klammer dagegen erkundet mit der Collagetechnik des Samplings die Geheimnisse des Charmes einer individuellen Stimme. Sezieren als Forschungsarbeit. Die besten Erkenntnisse aber gewinnt man im Gespräch, ganz undigital. Der Sinn von Tagungen.

Barbara Kern