piwik no script img

Als die Postkarten laufen lernten

■ „Cinematographie des Holocaust“zeigt Filme von Mitscherlich, Winzentsen, Spielberg

Was Franz Winzentsen am Filmemachen interessiert, ist „der schräge Blick auf Alltagsgeschichten“. Auch wenn seine Filme einen realen Hintergrund haben, bleiben sie im wesentlichen fiktiv. Das Dokumentarische, das vor allem in Zusammenarbeit mit dem Spiel- und Dokumentarfilmer Thomas Mitscherlich in Der Fotograf eine wichtige Rolle spielt, bleibt ein Stilmittel und beansprucht keineswegs, Abbild der Wirklichkeit zu sein. Der Fotograf (Foto) ist einer von drei Filmen, die in der Reihe Cinematographie des Holocaust gezeigt werden.

Der Taucher Hannes Büx durchstöbert mit seiner Geliebten Francie Gold den bilderreichen Nachlass seines Vater und seines Großvaters. Beide waren Fotografen und haben Zeit ihres Lebens bedauert, daß Hannes nicht in ihre Fußstapfen getreten ist. Was als harmloses Herumblättern in alten Fotoalben beginnt, greift allmählich über in die Gegenwart. Während Hannes' Vater die Stapelläufe der Kriegsschiffe fotografierte, mit denen dann der Zweite Weltkrieg geführt wurde, mußten Francies jüdische Eltern Deutschland verlassen. Die Jahrzehnte zwischen Kaiserreich und Wirtschaftswunder überlagern sich wie die Fotos in den Händen ihrer Betrachter. Immer wieder erstehen aus statischen Bildern unerwartete Bewegungen: Über einer Postkarte – ein Schiff auf stürmischer See – fliegt eine kreischende Möwe; eine Postkarten-Zigarre fängt plötzlich an zu glimmen. Als sich Francie von Gewissensbissen geplagt fragt, ob man den abgebildeten Unbekannten überhaupt eine Geschichte zuschreiben dürfe, ist die Frage für den Zuschauer nur noch rhetorisch.

Als Vorfilm zu Der Fotograf steht Anprobe 1938 von Franz Winzentsen auf dem Programm. Zweimal durfte er sich, so der Erzähler, die Welt anschauen, ohne geboren zu werden. Beim dritten Mal jedoch mußte er das Leben auf sich nehmen, ob er nun wollte oder nicht. Es ist ausgerechnet das Jahr 1938 in Deutschland. Aus Fragmenten setzt sich so ein Erinnerungsbild aus der pränatalen Phase zusammen, immer von der Gewißheit geprägt, daß es kein zurück mehr gibt. Nach der Premiere 1985 blieb vor allem eine Sequenz in Erinnerung: Aufnahmen von feinsäuberlichst aufgespießten Schmetterlingen akustisch begleitet von den Geräuschen einer anfliegenden Bomberstaffel. Seitdem hält die Debatte an, wie faschistische Ideologie und die Ordnungspedanterie von Entomologen zusammenhängen.

Nach diesen Filmen aus deutscher Produktion schließt Steven Spielbergs Schindlers Liste die kurze Filmreihe ab. Am Freitag spricht Jan Philip Reemtsma zu Spielbergs ergreifender Auseinandersetzung mit dem Holocaust eine Einführung.

Joachim Dicks

Do, 11. Dez., „Der Fotograf“/ „Anprobe 1938“, 19 Uhr; 12. und 13. Dez. „Schindlers Liste“, jeweils 19 Uhr, Metropolis

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen