: Ohne Leidenschaft streikt es sich schlecht
Der Studentenstreik begann in Hessen. Nun werden an der Gesamthochschule Kassel die Transparente wieder eingerollt. Doch der Abschied vom Streik fällt schwer. Jetzt aufhören? „Nicht gerade hilfreich und sehr peinlich“ ■ Von Heide Platen
Kassel (taz) – Spät haben sie angefangen zu streiken, die Gesamthochschüler in Kassel. Drei Wochen sind vorbei und der Fachbereich 05 ist schon sehr müde: „Was soll man denn zum Streik noch sagen?“ Die Vollversammlung der GesellschaftswissenschaftlerInnen hockt im kleinen Saal an der Nora- Platiel-Straße und grübelt. Ungefähr dreißig sind gekommen, ernste junge Männer und Frauen. Sie diskutieren verbindlich, differenziert und ohne Leidenschaft. Weiterstreiken oder nicht? Und finden einen Konsens, der entweder ein diplomatisches Meisterstück ist oder der pure Opportunismus.
Nach einer Stunde steht der Mehrheitswille fest: Abbrechen, oder besser „Aussetzen“: „Das heißt, daß wir sofort wieder anfangen könnten.“ Statt dessen wollen sie einzelne, gezielte Aktionen, für die „dann aber auch Veranstaltungen gecancelt werden müssen“. Nun sei es, sagen die Bedenkenträger, aber „nicht gerade hilfreich und sehr peinlich“, wenn ausgerechnet Politikstudierende als erste abbrechen. Was, wenn die Vollversammlung der Universität am nächsten Tag entscheidet, daß doch weitergestreikt wird? In den Rücken fallen wollen sie ihren Kommilitoninnen auch nicht: „Dann schließen wir uns eben deren Ergebnis an.“
Weiterstreiken, das ist in Kassel eine Position, die schwer durchzuhalten ist, wenn in den meisten Fachbereichen schon wieder kleine Grüppchen in Veranstaltungen hocken, mal eben ihr Referat halten, ein für sie wichtiges Seminar besuchen oder eine Hausarbeit abgeben. „Eventuell“, sinniert eine, „geben die Vollversammlungen ja nicht so richtig die Meinung der Studierenden wider.“
Die Argumente für den Abbruch des Streiks sind ebenso differenziert wie die dagegen. Und sie sind seltsam geschlechterspezifisch. Die meisten Frauen wollen aufhören, die meisten Männer weiterkämpfen: „Nicht abbrechen auf dem Höhepunkt. Wir haben viel mehr erreicht, als wir gedacht haben.“
Eine junge Frau ist stocksauer. Sie habe sich nur notgedrungen und aus moralischen Gründen mit dem Streik solidarisiert. Zehn Jahre habe sie gearbeitet und sich auf die Uni gefreut: „Ich habe Lust aufs Studieren!“ Sie könne es sich außerdem als Bafög-Empfängerin finanziell gar nicht leisten, ein Semester zu verlieren. „Eben“, hält ein anderer ihr entgegen, „deshalb streiken wir doch!“ Er fordert ein Coming-out gerade derjenigen, die gute Gründe für den Abbruch haben: „Sag das doch so auf der Vollversammlung!“ Letztlich entscheiden sich beide Gremien für den Abbruch, die Gesellschaftswissenschaftler ebenso wie die Vollversammlung der Kassler Gesamthochschule.
Die Bilanz der Streiktage löst gemischte Gefühle aus. Keine einzige der Forderungen sei wirklich eingelöst worden, sagen die einen. Sie seien außerdem ein Sammelsurium und zu unklar gewesen. Andere halten dagegen, daß sie fürs Leben gelernt, „Bewußtsein verändert“, geredet, „endlich mal Leute kennengelernt“ hätten. Illusionen machen sie sich nicht an der Universität, an der die Asta-Zeitung „Nemesis“ und das Cafe „Desasta“ heißt. Aktiv am Streik beteiligt haben sich „höchstens zehn Prozent“: „Das macht mich traurig.“ Und sie haben Angst davor, daß die öffentliche Meinung umschlägt: „Die Leute sagen, wir sind sowieso privilegiert und wollen nur Kohle abzocken.“
Diese Befürchtung hat sich auch in den eigenen Reihen eingeschlichen. Die pure Forderung nach „mehr Geld“ sei doch „völlig unpolitisch“ gewesen. Eben nicht, denn: „Es wird doch alles nur schlimmer, und viele Menschen machen jetzt endlich den Mund auf.“ Vor der Tür des Saales geht es härter zur Sache. Dort maulen zwei Bafög-Empfänger: „Wir sind hier doch eine Minderheit. Streiken, das können sich nur völlig unausgelastete Menschen leisten. Das sind doch alles Professorensöhnchen oder so.“
Thomas Bogies Vater ist kein Professor, das Architekturstudium kann Thomas sich trotzdem leisten. Der 33jährige Öko-Referent des Asta ist Zimmerer und Tischler: „Ich arbeite in den Semesterferien und habe keine Familie.“ Der Streik sei „gar nicht so schlecht gelaufen, obwohl wir viele Fehler gemacht haben“. Von Anfang an seien in allen Fachbereichen Veranstaltungen weitergelaufen und nicht verhindert worden. Die Forderung nach mehr Geld für Bildung sieht er aber „keinesfalls“ als unpolitisch. Daß Geld für Bildung da sei, daß Menschen chancengleich nicht nur Lesen und Schreiben lernen können, sei schließlich eine Grundlage der Demokratie: „Bewußtsein bildet sich schrittweise.“ Er setzt auf kommende Aktionen: „Nächstes Mal wird es besser!“
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