: Schock und Identität
■ Drei Fotoausstellungen zeigen das Elbufer, Großbritannien und die Welt
Schiff an der Ecke
Im Gegenlicht, wo die Figuren zu Schattenrissen erstarren, erkennt man sie entweder als allzubekannt oder überhaupt nicht. Der Hund, der der Betrachterin hart an der Wasserkante entgegenjoggt, die Kinder vor dem scheußlichen Quader mit Kuppel, der früher ein Kühlhaus war, nun ein Altenheim ist, der Eisbuden-Mann mit der fusseligen Nackensträhne sind Alltags-Elbansichten für Fans und andere Hamburger. Selbst die aufflatternden Tauben, Lieblingsmotiv aller Kitsch-Postkarten a la Venezia, sind liebenswürdig, wenn die Gehwegplatten und das Geländer nebendran ihnen das Identifikationssiegel „echt Hamburg“ verleihen.
Fünfzehn Fotos von Stefan Pielow, präsentiert vom Fabrik Fotoforum, mit überraschend vertrauten Ausblicken am Hamburger Elbufer hängen noch bis zum 4. Oktober in der Eimsbütteler Grauwert Fotogalerie. „Kommt'n Schiff um die Ecke“ – ein Titel eher für eine Kinder-Quizsendung; aber wie ihn nennen, den Augenblick, da sich gemütvoll und wie vom anderen Stern plötzlich ein dicker, fetter Ozeandampfer ins Blickfeld schiebt und die Perspektive zerlegt? Mal witzig, mal gespenstisch inszeniert, sind die Schiffe das Leitmotiv der Bilder.
„Sie sehen aus wie Schnappschüsse, sind aber keine“, erklärte Denis Brudna vom Fabrik-Fotoforum, Organisator des Ganzen, zur Ausstellungseröffnung. Nein, die Mischung aus körniger Februarnebelstimmung und sommerlichen Reflexen wirkt zu bedacht, als daß hier schierer Zufall und gute Laune gewaltet hätten. Pielow, 1959 in Hildesheim geboren, seit 1990 als freier Fotograf in Hamburg für Stern und Zeitmagazin tätig, hat die fünf Kilometer Elbufer offensichtlich ins Herz geschlossen – seine grünschwärzlich und weiß schillernden Querformate belegen es. Ulrike Winkelmann
Galerie Grauwert, Telemannstraße 27, bis 4. Oktober.
Out of Britain
James Cant, Dean Chalkley, Matthias Clamer und Rolant Davis wollen mit ihren Fotos „das Verständnis erweitern von dem, was es heißt, britisch zu sein.“ Denn was im United Kingdom so vereint ist, ist längst weitaus mehr als nur englisch. Daß Matthias Clamer aus Deutschland und Rolant Davis aus Wales kommen, bestärkt nur die leicht gebrochene Identifikation mit dem Typischen.
Die Fotos der vier Absolventen des Blackpool & Flyde College zeigt die Hamburger Kunstgeschichtlerin Friederike Weimar als zweite Ausstellung ihres an verschiedenen Plätzen jeweils neu realisierten Galerie-Projekts ARTUS, diesmal in leerstehenden Räumen des Sprinkenhofs. Die Künstler arbeiten mit dicken Ideenbüchern, gehen dann los und sehen, ob die Realität ihrer gefräßigen Kamera etwas bietet.
Nur wenige Porträts und Modefotos sind im klassischen Sinne gestellt, bei dieser Fotografie überwiegt das Konzept. So hat Matthias Clamer in einer Disco in Blackpool eine weiße Leinwand aufgespannt und holte direkt von der Tanzfläche schrille Paare zur verschwitzten Modedokumentation. Die in allen Techniken versierten vier Fotografen im Alter von 25-30 Jahren haben extra für Hamburg das Projekt „Out of Britain“ konzipiert. Es zeigt Britannien und seine Menschen etwas anders als das anglophile hiesige Klischee es erwartet. Da manifestieren sich die Katastrophen von Suburbia wie Stiefmütterchenschale, kleiner Betonlöwe und Antikenkitsch auf dem verlorenen Posten einer traurigen Fensterbank, da zeigt sich zugleich Tristesse und Erfindungsgeist. Und da sind die Gesichter ungewöhnlicher Individuen zu entdecken: blasse Punks und bunte Teddies, starke Typen mit Hard-Core Piercing oder die nette alte Lady im Laden für Sex-Scherz-Artikel.
Acid und House-Music tönt durch die Galerieräume im Sprinkenhof. Das paßt nicht nur zum Lebensgefühl der jungen Künstler, es gehört auch zum alle Kunst verbindenden Konzept der Junggaleristin, die die übliche Segmentierung der Galerien auf nur Malerei oder nur Foto angesichts der heutigen Kunstpraxis für unangemessen hält. Deshalb zeigt sie in zwei Nebenräumen auch gleichzeitig „Högmo“, „Spunk“, „Trum“ und „Plagge“, plastische Arbeiten von Stefanie Ammons. Es sind von archäologischen Fundstücken inspirierte Objekte zwischen Meißel und Ritualaxt, Sexualsymbol, Hoheitszeichen und stilisiertem Körper aus Gips und Beton, die einen kontemplativen und stillen Gegenpart zur Craziness des britischen Alltags bieten. Hajo Schiff
ARTUS, Burchardstr. 10, Di-Do 16-21, Sa+So 11-21 Uhr, bis 10. September.
World Press Photo –95
Man stumpft nicht ab. Es ist ein Gerücht, daß die tägliche Flut von Leichen-, Blut- und Tränenbildern unempfindlich macht. Unempfindlich wird lediglich die Sprache, die das Elend kommentieren muß.
In der Ausstellung World Press Photo '95 im Gruner+Jahr Pressehaus sind hundert schockierende und wunderschöne fotojournalistische Arbeiten des vergangenen Jahres versammelt. Ebenso freundlich wie abgründig sind die Serien über den Leipziger Thomanerchor, eine der beiden deutschen Arbeiten, und über die präparierten Tierkörper in einem Museum. Die Bilder von Choleratoten in Ruanda, Attentatsopfern in Algerien und klagenden Frauen in Tschetschenien dagegen beweisen zweierlei: Der Schrecken der Realität erschöpft sich nicht, und das Foto bleibt sein Medium. Erscheinen solche Bilder in Hochglanzmagazinen, stellt sich sofort die Frage nach der Ethik der Vermarktung von Leid und der Moral des Reporters, der es ablichtet, ohne helfend einzugreifen. Aus dem kommerziellen Rahmen gelöst, werden die Fotos wieder zu quälenden Dokumenten.
Im 38. World Press Photo-Wettbewerb, dem größten Fotowettbewerb der Welt, hat eine unabhängige, internationale Jury unter 29.885 Fotos von 2 997 Fotografinnen und Fotografen aus 97 Ländern die besten ausgesucht. In acht verschiedenen Kategorien, darunter „Harte Fakten“, „Menschen in den Schlagzeilen“, „Sport“, „Kunst“ und so weiter, wurden Einzelbilder und Bildreportagen prämiert.
Auch eine Kinderjury, ebenfalls international, hat ihre Wahl getroffen. Sie fiel auf ein Bild aus der Serie Leben der Lakota-Indianer von der Schweizerin Katrin Freisager. Eine junge Frau sitzt im Gras, mit zwei Kindern auf dem Schoß, und bietet allen Stereotypen von Glanz und Elend der nordamerikanischen Indianer die Stirn.
Das Bild aller Bilder, das World Press Photo '94, zeigt einen von Narben gezeichneten Kopf eines jungen Hutu, der in Ruanda von Angehörigen seines eigenen Stammes so entstellt wurde, weil er sich weigerte, an dem Massaker an den Tutsi teilzunehmen. Grauen und Hoffnung hat die Jury in diesem Porträt des US-Amerikaners James Nachtwey vereint gefunden und es deshalb weit skandalöseren Arbeiten vorgezogen.
Ulrike Winkelmann
Am Baumwall 11, Mo-Sa 10-18, So 10-17 Uhr, bis 13. September.
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