Die unspektakuläre Fähigkeit zur Freude in sich

■ Entgegen allen schlechten Nachrichten über Kriminalität und Jugendbanden ist der öffentliche Raum der Stadt noch immer ein toller Ort der Freude. Die Topographie des Glücks ist für jeden eine andere

Schluß mit den schlechten Nachrichten – das Glück liegt auf der Straße! Zum Beispiel in Neukölln. Wochenlang mußte Dankwart B. auf sein Geld vom Sozialamt warten, bis er auf der Ossastraße einen Hundertmarkschein auf dem Gehweg fand. Ein Einzelfall? Wohl kaum. Ganz nach dem Motto Hölderlins, daß nebem dem Unglück auch das Rettende wächst, machen viele Bürger des einwohnerstärksten Bezirks aus ihrem Herz keine Mördergrube mehr. Nicht nur die bündnisgrüne Abgeordnete Ida Schillen ist nunmehr offen zufriedene Neuköllnerin, auch FDP-Modernisierer wie Tobias Oswald oder SPD-Größen wie Hans-Jochen Vogel sind nicht immer, aber immer öfter stolz, Neuköllner zu sein.

Beispiele wie diese zeigen, daß eine Topographie des Glücks, zumal in einer Großstadt wie Berlin, eine durchaus überraschende Angelegenheit ist, die sich vordergründigen Zuschreibungen nicht selten entzieht. Orte des Glücks sind in erster Linie eben keine Frage des öffentlichen Images, sondern der subjektiven mental maps. Nicht eine Topographie des Glücks gibt es demnach in Berlin, sondern 3,5 Millionen. Wer seine Geliebte am Schlachtensee zum erstenmal küßt, wird diesen Ort immer als Liebesnest im Gedächtnis behalten, egal ob sich gleich daneben die jugendlichen Vorstadtdealer treffen. Und der häßliche Rohbau, der den Nachbarskindern überdies die verwilderte Freifläche nimmt, ist für manchen Obdachlosen ein windgeschütztes Zuhause.

Gleichwohl scheinen sich Glück und Stadt für zeitgenössische Kritiker noch immer auszuschließen. „Mir scheint“, so zitiert der New Yorker Schriftsteller Paul Auster seinen Kollegen Baudelaire, „daß ich immer dort glücklich wäre, wo ich nicht bin.“ Führt diese Beobachtung die einen bereits in Scharen in die Reihenhausunterkünfte im Umland, so scheint auch vielen Zurückgebliebenen Glück nur noch ein Aggregatzustand vergangener, also besserer Zeiten zu sein. Und in der Tat: Sämtliche Beobachtungen sprechen zunächst für die These, daß die Stadt viel eher ein Ort des Unglücks ist. Längst schon, so haben Soziologen festgestellt, habe das wohnungsbezogene Leben das quartiersbezogene abgelöst. Und selbst Glücksforscher wie Mihaly Czikszentmihalyi wollen Beweise dafür gefunden haben, daß sich „Momente der Erfüllung und Bestätigung“ am Arbeitsplatz weitaus häufiger einstellen als nach Feierabend auf dem Nachhauseweg. Sollte der öffentliche Raum der Stadt damit tatsächlich zum Korridor zwischen den „wahren Orten des Glücks“, den eigenen vier Wänden und dem Büro, reduziert worden sein?

Manches spricht dafür, vieles jedoch – und dies nicht nur am „Tag der guten Nachricht“ – dagegen. Ermutigendstes Beispiel ist einmal mehr die Jugend. Kaum haben die Jungen und Mädchen, derentwegen die Eltern so gerne an den Stadtrand ziehen, das statistische Fahrbahnüberquerungsunfallalter hinter sich, wollen sie nicht länger in Dorfdiscos und auf Schützenfesten, sondern wieder in der Stadt ihr Glück versuchen. Und selbst den Studis, denen man nachsagt, daß sie nichts sehnlicher wünschen, als in gut ausgestatteten Bibliotheken fürs Leben zu lernen, gefällt es auf der Straße mitunter besser als in den ausladenden Armen der Alma mater.

Glück, so bewertete im Sommer die FAZ die Antworten auf die taz- Serie „Sind Sie glücklich?“, trotze offenbar sichtlichem Unglück wie Arbeitlosigkeit oder Krankheit. „Sie leben in Verhältnissen“, hieß es, „deren Tristesse jedem kosmopolitischen Connaisseur das Herz stocken ließe, und doch haben sie eine verhaltene, unspektakuläre Fähigkeit zur Freude in sich.“ Soll heißen: Selbst unter den miserabelsten Verhältnissen läßt es sich ganz toll flanieren, wenn man nur den inneren Frieden gefunden hat. Wer redet da noch von „gefährlichen Orten“? Uwe Rada