: Nebenan gibt's „all inclusive“
■ Ein Abstecher von der Dominikanischen Republik nach Haiti. Statt Sport und Action am Strand gibt es den Fotostopp bei der haitianischen Familie: Auch touristisch ein Entwicklungsland
„Willkommen in Haiti“, sagt Anke, die deutsche Reiseleiterin. Anke kennt sich aus auf ihrer Lieblingsinsel Hispaniola. Regelmäßig fährt sie mit Pauschaltouristen, meist Deutsche, von der Dominikanischen Republik über den kleinen Grenzfluß Rio Dajabon in den Norden Haitis nach Cap Haitien. Lässig sitzt sie neben Fernando, dem Busfahrer. 1,4 Millionen Touristen kommen jährlich in die Dominikanische Republik. Meist „all inclusive“ an die Badestrände von Punta Cana und Sosua. Kaum einer dieser Urlauber verläßt länger als einen Tag die Hotelanlagen. Auch der Ausflugsbus nach Haiti ist fast leer: eine Handvoll Touristen plus Anke und Fernando.
„Der Fluß heißt jetzt Rio Massacre“, sagt Fernando und zeigt auf das fast ausgetrocknete Flußbett des Rio Dajabon. 1937 ließ hier der dominikanische Diktator Trujillo, aus Angst vor Überfremdung seines Landes, Hunderte dunkelhäutiger Haitianer niedermetzeln, die als billige Arbeiter auf den Zuckerrohrfeldern der Dominikanischen Republik schufteten. Heute arbeiten schätzungsweise mehrere hunderttausend Haitianer für Hungerlöhne in der Dominikanischen Republik. Sie flechten Touristen die Haare, arbeiten in der Landwirtschaft oder als Prostituierte an den Touristenstränden. Viele halten sich illegal in ihrem Nachbarland auf. Offiziell wird die Grenze für Haitianer in Dajabon jeden Freitag bis 16 Uhr geöffnet. Dann ist Markttag. Das rostige Vorhängeschloß der Eisenkette auf der Brücke wird abgenommen, und Hunderte drängeln an den dominikanischen Militärs vorbei, um dringend benötigte Grundnahrungsmittel zu kaufen, die es im Norden Haitis nur schwer oder gar nicht mehr gibt: Reis, Bananen, Hühner und Eisblöcke zum Kühlen von Lebensmitteln. So manches Huhn, das bei Voodoo-Zeremonien geopfert wird, stammt nicht mehr aus Haiti, sondern aus der Dominikanischen Republik. Bereits 1994 machten die Dominikaner gute Geschäfte, indem sie Lebensmittel und Benzin in das Nachbarland schmuggelten und damit das US- Embargo gegen die haitianischen Militärs unterliefen. René Preval, seit 1996 Staatsoberhaupt Haitis, regiert ein Land, das eine Arbeitslosigkeit von 50 Prozent aufweist und in dem jahrelang Ausplünderung und Unterschlagung an der Tagesordnung waren.
Für die 92 Kilometer bis Cap Haitien braucht der halbverlassene Touristenbus fast drei Stunden. Er überholt Tap-Taps, die völlig überladenen Lastwagen oder Kleinbusse, die als öffentliche Verkehrsmittel dienen. Am Straßenrand schiefe Lehmhäuser, nackte Kinder mit aufgeblähten Bäuchen vor staubiger Steppenlandschaft. Inselpolaritäten: anstelle dominikanischer Merengue-Musik kreolischer Haitipop, statt üppiger Vegetation karge Dornensavanne, statt Sport und Action am Strand Fotostopp bei einer haitianischen Familie. Zwei französische Touristen packt das Mitleid. Sie verschenken Dollarnoten. Auf die Frage, ob sie auch Holzkohle kaufen wollen, lächeln sie verschämt und steigen wieder in den klimatisierten Bus. „Auf Holzkohle machen hier fast alle“, sagt Anke und deutet auf die kilometerweit abgeholzte Landschaft. Raubbau mit katastrophalen Folgen. Nur vereinzelt stehen noch Bäume. Ziegen rupfen an Grasresten.
Anfang der achtziger Jahre drängten die Touristen massenhaft aus den USA nach Haiti. Politische Krisen unter Diktator Duvalier, Militärputsch und politische Instabilität haben den Tourismus beendet. Der Touristenmarkt in Cap Haitien ist ausgestorben. Voodoo- Puppen verstauben als Ladenhüter, Mahagonigabeln und Trommeln verblassen im Sonnenlicht und warten auf Dollartouristen, die lieber an den überfüllten Stränden des Nachbarlandes liegen, als das Risiko eines Kulturschocks in Kauf zu nehmen. Und so schlendert eine einsame Reisegruppe über den Eisernen Markt in Cap Haitien, bestaunt verschrumpelte Ziegenköpfe, halbverdorrtes Gemüse, ausgeschlachtete Kühlschränke und ausgeleierte Unterhosen einer ehemaligen Altkleidersammlung aus Europa. Es riecht nach gärendem Müll. Auf einer Fläche so groß wie ein Fußballfeld hocken Frauen auf abgebröckelten Bürgersteigen. Sie verkaufen Holzkohle. Der Kohlenstaub verfärbt Hände, die Gesichter, die Kleidung. Nebenan eine Schule. Mädchenstimmen. Sie konjugieren französische Verben. Mit weißer Kreide steht das Wort „Kraft schöpfen“ an der Tafel. Ortswechsel: die blaue Lagune. Da, wo der gleichnamige Film gedreht wurde. 20 Minuten Fahrt über Bergpisten. Tropische Vegetation. Ein Junge pflückt saftige Mangos und schenkt sie schüchtern den Touristen. Strände laden zum Schnorcheln ein. Voodoo-Trommeln erklingen. Urlaubsträume. Karibikträume. Entwicklungsträume. Experten glauben, daß Haiti ähnlich erfolgreich werden kann wie die Dominikanische Republik und 35.000 Hotelzimmer verkraften kann. Bleibt zu hoffen, daß Haiti auch die Touristen verkraftet. Aber die müssen erst mal Haiti verkraften. Wenn nicht, gibt's nebenan ja immer noch Beach mit „all inclusive“. Detlef Salman
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen