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Ein Völkchen auf Schienen

Fünf Leute teilen sich ein Bahnticket quer durch Deutschland: eine billige und gar nicht streßfreie Art, Land und Leute kennenzulernen  ■ Von Per Hinrichs (Text) und Andreas Herzau (Photos)

Draußen gleitet die Heidelandschaft vorbei, vom Frost wie mit Puderzucker überzogen. Drinnen stehen Herr und Frau Wüst zwischen zwei Waggons des Regionalexpreß 3215, in Mantel und Schal gehüllt. Nächster Halt Uelzen. Es zieht durch tausend Ritzen. „Wir kennen das schon“, sagt Herr Wüst gelassen. „Aber wir sind nun mal eingefleischte Bahnfans.“ Auch wenn es nur noch Stehplätze gibt. Die Hälfte der Sitze belegen die SchwimmerInnen des „Freien Wassersportvereins Vorwärts“ aus Hamburg. Dahinter sitzt Familie Gaffer, die sich auf den 13stündigen Weg von Kiel nach Stuttgart gemacht hat. Rita, Rohina und Fareschta reisen bis Frankfurt. Alle gehören sie zu einer allwöchentlichen Massenwanderung auf Schienen.

Für 35 Mark können sich fünf Leute das teilen, was die Deutsche Bahn mit dem etwas sperrigen Namen „Schönes-Wochenend-Ticket“ getauft hat. Jeden Samstag und Sonntag stückeln sich damit Tausende eine Reiseroute auf den Linien der Regional- und Stadtexpreßzügen zusammen. Eltern und Schwimmfreunde besuchen, nach Berlin zum eingepackten Reichstag oder nach München zum Oktoberfest zuckeln. Oder mit wildfremden Leuten auf einem Ticket einfach im Kreis fahren. „Deutschland kennenlernen“, sagt Herr Wüst. Vom Kennenlernen der Landsleute per Ticket–Sharing halten die Wüsts nicht soviel. „Da stehen die ganzen jungen Leute am Hauptbahnhof und belästigen einen, ob sie mitfahren können. Unmöglich.“

Einfahrt in Hannover. Der Bahnsteig ist bunt vor Menschen. Kaum steht der Zug, bilden sich Trauben an den Türen. Wer raus will, muß sich gegen den Druck nach draußen wuchten. Familien mit Kinderwagen warten bis zuletzt, und dann ist meist kein Platz mehr im Zug. Es geht nicht vorwärts und nicht rückwärts. Eine Überbelegung von „200 Prozent“, schätzt der Zugschaffner Burkhard Ditze, verhindert das Schließen der Türen. Ditze signalisiert dem Lokführer, daß er so nicht weiterfahren kann. Und fordert mehr Waggons bei der Transportleitung Hannover an. „Das ist doch nicht zumutbar.“ Nach einer Viertelstunde gibt die Direktion zu verstehen, daß der Zug auch mit doppelter Überbelegung zu fahren habe. Ditze quartiert einige Mütter mit Kinderwagen im Gepäckwaggon gleich hinter der Lok ein. Keine Dämmung, keine Sitze, keine Heizung. Die jungen Frauen machen es sich auf den Holzbohlen bequem – so gut es eben geht. Andere waren schneller und haben die Abteile der ersten Klasse belegt – die Aufhebung der Klassengesellschaft im Regionalverkehr.

Soviel Volk auf den Schienen ist der Deutschen Bahn inzwischen unheimlich. 16 Millionen „Schöne- Wochenend-Tickets“ hat man seit Februar 1995 verkauft, 480 Millionen Mark Umsatz gemacht, eine Menge Leute aus dem Auto in den Zug gelockt. Die Geisterzüge des Nahverkehrs sind plötzlich voll – zumindest samstags und sonntags.

Trotzdem, findet die Bahn, zeigt sich die Kundschaft undankbar. Zuviel Vandalismus. Zuviel schwarzer Weiterverkauf von Tickets. Zuwenig Kontrollmöglichkeiten. Und eben zu viele sparsame Familien, klamme Studenten und arbeitslose Jugendliche, die zu fünft für 35 Mark in der ersten Klasse reisen. Also – so der ursprüngliche Plan – sollten sich ab 1. Januar 1998 nur noch zwei Erwachsene ein Ticket teilen und maximal zwei Kinder bis 17 Jahren oder beliebig großen eigenen Nachwuchs mitnehmen dürfen. „Deutliche Verbesserung für Familien“, sagt Hartmut Sommer, Sprecher der Abteilung Personennahverkehr der DB. Burkhard Ditze, der etwas näher an den Personen dran ist, murrt. „Wie soll ich in Zukunft kontrollieren, ob die vier Kinder wirklich zu einem Vater gehören? Soll ich jetzt noch den Personalausweis verlangen?“

Jedes Rumpeln ist an der Nahtstelle zwischen den Waggons zu spüren, da, wo Kinder, ein paar Skinheads und eine schwangere Frau zwischen den Reisetaschen kauern. Hier ist noch am meisten Platz. In den Abteilen beschlagen die Scheiben. Die Menschen stehen dicht gedrängelt wie im vollbesetzten Stadtbus. Irgend jemand hat ein Herz ans Fenster gemalt. Die drei Kinder der Gaffers, Kashhi, Zisha und Sherie, knabbern Fladenbrot und sehen seelenruhig aus dem Fenster, auf die hügelige Landschaft Niedersachsens. Stratuswolken ziehen auf und sprühen Nieselregen an die Scheibe. Noch zehneinhalb Stunden bis Stuttgart.

Marcel, Olaf, Michael und Stefan aus Neubrandenburg fahren jeden Sonnabend und Sonntag im Kreis. „Wir sehen uns allet an, von Berlin bis Polen, von Hamburg bis Göttingen“, sagt Michael. Einfach fahren, denn „in Neubrandenburg ist nichts los. Da hängen die Glatzen ab, da ham wir keinen Bock darauf“, sagt Olaf und zieht die Skatermütze tiefer ins Gesicht. In Sichtweite stehen zwei Skins mit ihren Freundinnen. „White Power“ hat der eine auf dem Pullover stehen. „Ist 'ne bunte Mischung hier. Aber im Zug sind die Glatzen friedlich“, weiß Marcel.

Viel zu bunt, finden die Glatzen. „Klar würden wir die Schwarzköpfigen gerne aufmischen. Aber in den Nahverkehrszügen haben wir nichts zu melden.“

Wohl auch deshalb fühlt sich der sudanesische Medizintechnik- student Amin im Regionalexpreß relativ sicher. „In Greifswald gehe ich nachts nicht nach draußen. Aber im Zug am Wochenende habe ich keine Angst.“ Seine Fahrzeit überbrückt er mit Büchern und ein paar Nickerchen. Daß bald nur noch zwei Erwachsene auf einer Karte fahren dürfen, findet er schade. „Im Zug lernt man nette Menschen kennen.“

Bis zum 1. April kann er das Ticket-Sharing noch voll ausnützen. Soviel Aufschub hat die Deutsche Bahn nun doch gewährt. Drei Monate noch, um für 35 Mark mit vier wildfremden Menschen Land und Leute kennenzulernen.

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