■ 1997 war das Jahr der nationalpädagogischen Predigten Herzogs
: Wagnis ist nicht gleich Wagnis

Die Aula ist berstend voll, Studis sitzen dichtgedrängt bis ans Katheder. Roman Herzog breitet auf einer Streikversammlung seine Gedanken zur Bildungsreform aus. Pfiffe, Zwischenrufe, als er auf die Studienzeiten zu sprechen kommt. Aber am Schluß einer dreistündigen, erbitterten Diskussion Beifall. Nicht Zustimmung zu den Thesen, aber Achtung vor dem Mann und seiner Courage. Wer wagt, gewinnt.

Tatsächlich aber hat Roman Herzog, der uns den Mut zum Wagnis predigt, selbst nichts gewagt. Er hielt seine Rede zum Thema Bildung bekanntlich am 5.November 1997 im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, am preußisch-königlichen Ort, zustimmungsumbrandet, inmitten ausgesuchter Würdenträger. Anschließend kaltes Buffet. In der Differenz zwischen der vorgestellten und der wirklichen Szenerie liegt die Substanz der Amtsführung des Bundespräsidenten im zu Ende gehenden Jahr.

Nichts gegen präsidentielle Meinungsäußerungen, nichts gegen lockere Unverblümtheit. Die staatsmännische Equilibristik Richard von Weizsäckers haben wir lange genug genossen. Aber wer einen Vorstoß unternimmt, eine kleine Bombe zündet, der muß sich im Getümmel bewegen, muß sich angreifbar machen, gegnerische Argumente provozieren und auf sie antworten. Früher nannte man das mal Diskursethik.

Herzogs große Interventionen dieses Jahres, sowohl die im Adlon („Ruck-Rede“) wie die im Schauspielhaus, folgen der autoritären Aura beider Orte. Sie sind nicht dialogorientiert, nicht diskursiv. Vielmehr wollen sie das Gemüt der Deutschen umkrempeln, appellieren an Werte, die Herzog verschüttet glaubt, fordern zur Umkehr auf. Es sind nationalpädagogische Predigten. Wir sollen erweckt werden wie einst von Fichtes Reden an die deutsche Nation.

Aber viele der angesprochenen Deutschen schlafen nicht, und ihr Schlaf gebiert keineswegs Ungeheuer. Sie wollen nur nicht ein weiteres Mal auf den Ruf „Deutschland, erwache!“ hören. Denn vor dem Wagnis, das wir nach Herzog scheuen, liegt das Kalkül des Risikos. Es gibt einen leicht einsehbaren Unterschied zwischen dem Wagnis, zu dem Herzog uns einlädt, und dem Wagnis, das Willy Brandt 1989 einforderte. Denn das damalige Wagnis betraf die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft, war institutionenbezogen, appellierte an die selbstbewußte Vernunft des einzelnen. Daß dieses Wagnis scheiterte, besagt viel gegen die Sozialdemokratie, aber wenig gegen die damalige Parole.

Herzogs Aufforderung zum „Wagnis“ aber unterläuft die Ebene politischen Streits und politischer Entscheidung, unterstellt einen bedrohten deutschen Tugendkatalog, wendet sich nicht an die Vernunft, sondern ans sinnstiftende Gemeinschaftserlebnis. Nur so läßt sich die berüchtigte Metapher vom „Ruck durch Deutschland“ entziffern.

Sinnstiftung, besonders wo sie das Kollektiv zum Gegenstand hat, ist eine heißbegehrte Ware. Der institutionelle demokratische Prozeß erzeugt sie nicht, sondern lebt von ihr. Neuer kollektiver Sinn entsteht mit neuen kollektiven Bedürfnissen, vorgetragen und zuerst gelebt von Minderheiten, dann, später, in gesellschaftlichen Kämpfen durchgesetzt. Die Anti- AKW-Bewegung, deren wichtigste Forderung heute von der Mehrheit der Deutschen unterstützt wird, hat genau diesen Weg genommen. Es wäre ein Irrtum, zu glauben, die Gesellschaft sei heute nicht mehr fähig zu Werthaltungen, die von der Mehrheit geteilt werden. Gerade jetzt werden wir Zeuge eines Prozesses, der einen zentralen Wert neu belebt. Die neoliberalen Ideologien erodieren, Gerechtigkeitsdiskurse unterschiedlicher Herkunft durchziehen die Gesellschaft. Neben dem regierungsoffiziellen „Reformkurs“ entwickeln sich, langsam und widersprüchlich, gesellschaftliche Reformkräfte, die den Grundwert der Solidarität teilen. Und schon tauchen Politiker auf wie Andrea Fischer von den Bündnisgrünen, die diese „Atmosphäre“ zu praktischen Vorhaben verdichten. So langsam, so schnell geht das. Ein tröstlicher Gedanke angesichts der Hauruck-Ideologie, die so scheitern wird wie alle Ermahnungen zur „sittlich-moralischen Wende“ vor ihr. Christian Semler