piwik no script img

Verborgene Geschichte(n)

Während der Teilung wurden zahllose indische Frauen vergewaltigt, verschleppt, getötet. Über ihr Schicksal schweigen die Geschichtsbücher  ■ Von Urvashi Butalia

Offiziell ist die Teilung in Indien vergessen, ihre schmerzhaften Erinnerungen werden beiseite gedrängt. In Regierungsdokumenten finden sie keine Erwähnung, und die auf Dauer hohen menschlichen Kosten haben in der offiziellen Geschichte des Subkontinents keinen Platz.

Inoffiziell jedoch leben diese Geschichten weiter; in Familien und Gemeinden wird immer wieder davon erzählt: Wie das war, als sich plötzlich Nachbar gegen Nachbar stellte, aus Freunden Feinde wurden, Grenzen gezogen wurden und ein ganzes Leben, das man zusammen verbracht hatte, plötzlich beiseitegefegt und neue, feindliche Identitäten angenommen werden sollten. Alle Gemeinschaften hatten sich aufzuteilen in „Die“ und „Wir“, Religion wurde zum Ausweis und gab an, wohin man gehörte; neue Grenzlinien trennten Dörfer und Gemeinden.

Es gibt viele verborgene Geschichten über die Teilung, die wir in unseren Geschichtsbüchern nicht finden. In den zehn Jahren, die ich nun über die Teilung arbeite, habe ich vor allem ihnen gelauscht. Erst durch sie wurde mir klar, wie sehr diese Katastrophe das Leben der normalen Menschen berührt hat, besonders die Menschen, die ohnehin an den Rand der offiziellen Geschichte – und des Lebens – gedrängt sind: Frauen, Kinder, Arme und Unberührbare.

Hier sind einige der Geschichten, wie sie mir erzählt worden sind.

Im August 1947 traf Mangal Singh zusammen mit seinen zwei Brüdern eine Entscheidung, die sie ihr Leben lang nicht vergessen würden: Sie töteten 17 Familienangehörige – vor allem Frauen und Kinder – damit sie nicht in Gefahr gerieten, zum Islam konvertiert zu werden. Sie wurden im Haus der Familie zusammengerufen, die drei Brüder nahmen das kirpan, das heilige Schwert der Sikhs, zur Hand, und jeder einzelne „bot sich dem Tod dar“ – und die Brüder „machten sie zu Märtyrern“. Nach der Tat flohen die drei über die neu entstandene Grenze des Punjab nach Amritsar. In ihrem eigenen Dorf waren sie nicht mehr sicher, da es nun zu Pakistan gehörte, der „falschen“ Seite.

Viele Jahre nach der Teilung fragte ich Mangal Sikh, inzwischen der einzige Überlebende der drei Brüder, nach dieser Geschichte. Warum tötete man die Frauen und Kinder? Warum sollten sie keine Chance haben, durch Flucht zu überleben? Und wie haben sie selbst mit dem furchtbaren Schmerz gelebt, mit der Last ihrer Erinnerung?

Mangal Singh akzeptierte das Wort „töten“ nicht und bestand darauf, man habe sie „zu Märtyrern gemacht“. Weil sie schwach waren, weil man die Frauen zum Konvertieren gezwungen hätte oder die Männer der anderen Religion sie durch Vergewaltigung verunreinigt hätten. Und sein eigener Schmerz? „Hunger vertreibt alle Sorgen. Verstehen Sie? Wenn man nichts hat, hat auch die Trauer, der Schmerz keinen Sinn. Wer nichts im Magen hat, kann nicht weinen. Vergessen ist nicht einfach. Man vergißt nicht, aber die Zeit fordert ihren Tribut. Keiner... trocknet dir ... die Tränen, erlöst dich aus deinem Schmerz.“

Mangal Singhs Angst war nicht unbegründet. Tausende von Frauen wurden im Zuge der Teilung vergewaltigt und verschleppt von Männern „der anderen Religion“ (oft auch der eigenen). Es geschah häufig, daß Familien beschlossen ihre Frauen zu töten, um sie vor diesem Schicksal zu bewahren. Sie wurden damit zu Märtyrerinnen für die „Sache“ ihrer Religion.

Basant Kaur war eine von 90 Frauen, die sich lieber in einem Brunnen ertränken wollten, als den Angreifern in die Hände zu fallen. „Viele Mädchen wurden getötet. Mata Laajwanti hatte einen Brunnen nahe am Haus, in einer Art Garten. Wir sind alle hineingesprungen, eine nach der anderen, ich auch. Ich nahm meine beiden Kinder, und wir sprangen. Ich trug etwas Schmuck an den Ohren und am Arm und hatte 14 Rupies bei mir. Ich zog den Schmuck ab, warf ihn und das Geld in den Brunnen und sprang hinterher. Aber es war so, wie wenn man zu viele Brote in den Ofen schiebt: Die letzten werden nicht gar, und man muß sie herausnehmen. Der Brunnen war voll, und wir konnten nicht ertrinken.“

Als im September 1947 das Ausmaß der Verschleppungen deutlich wurde (75.000 Frauen sollen es auf beiden Seiten gewesen sein, dazu kommt Kaschmir, für das keine Zahlen vorliegen), organisierten beide Regierungen Rückführungen. Transitlager wurden eingerichtet, in denen die Frauen zunächst unterkamen, Sozialarbeiterinnen kontaktierten ihre Familien. Damit begannen jedoch neue Probleme. Häufig weigerten sich die Frauen, zu ihren Familien zurückzukehren. Sie hatten einige Zeit mit ihren Entführern gelebt, hatten Kinder von ihnen und manchmal ein besseres Leben gehabt als zuvor. Und viele Familien weigerten sich, ihre Frauen zurückzunehmen, weil sie meinten, sie wären durch den sexuellen Kontakt mit dem Feind, den Männern einer anderen Religion, beschmutzt.

Damyanti Sahgal war damals Sozialarbeiterin und arbeitete in den Lagern, in denen Hunderte verschleppter Frauen nach ihrer Rückkehr untergebracht wurden. Sie erzählt, wie man die Frauen suchte:

„Morgens gingen wir immer los, um die Mädchen zu finden. Wir gingen in die Dörfer und verkauften Eier. Und wir fragten die Leute nach einem Glas lassi (Buttermilch) und erzählten nebenbei, daß wir Flüchtlinge aus Hindustan seien und die Sikhs beispielsweise meinem jüngeren Bruder die Frau weggenommen hätten. Ob sie nicht die Tochter eines Hindu hier kennen, mein Bruder sei so traurig allein. Wenn es eine gebe, sollten sie uns Bescheid sagen, vielleicht könnten wir sie ja kaufen, und der arme Bruder hätte endlich wieder ein Zuhause.“

Anis Kidwai, die mit muslimischen Frauen gearbeitet hat, erklärt, warum ihrer Meinung nach viele verschleppte Frauen nicht unbedingt zurückwollten: „Manche von ihnen kamen aus armen Familien und hatten nichts anderes als Armut kennengelernt. Einen halbvollen Magen und Lumpen am Leib. Und dann waren sie Männern in die Hände gefallen, die ihnen Kleider aus Spitze und Seide boten, die sie neue Genüsse lehrten wie Kaffeetrinken und Eisessen, die mit ihnen ins Kino gingen. Warum sollten sie diese Männer verlassen und in die Armut zurückkehren, in der sie wieder hätten Lumpen tragen und bei sengender Hitze auf den Feldern arbeiten müssen? Wenn sie diesen schicken Mann in Uniform (viele Frauen waren von Polizisten und Soldaten verschleppt worden) verließen, würden sie wahrscheinlich wieder bei einem Bauern in Lumpen landen ... Deshalb waren sie froh, wenn sie die Schrecken der Vergangenheit hinter sich lassen konnten. Nichts konnte sie dazu bringen, sich einer ungewissen und womöglich schrecklichen Zukunft auszusetzen, sie blieben lieber in der Gegenwart.“

Wo Frauen von Vergewaltigung und Verschleppung bedroht sind, werden auch ihre Kinder Opfer dieser Geschichte. Kulwant Singh war zur Zeit der Teilung elf Jahre alt.

„Ich war noch klein. Meine Mutter hat gesehen, wie mein Vater umgebracht wurde. Sie haben ihn zerstückelt. Den ersten Schlag bekam er ins Genick, dann zerschnitten sie ihn in hundert Stücke. Ich zitterte, überall lagen so viele Leichen, überall war Feuer. Ich war so durstig, sie hörten mich weinen. Meine Mutter packte mich am Kopf und hob mich hoch, meine Tante griff nach den Füßen. Ihre sechs Monate alte Tochter ... zuerst beteten sie, dann warfen sie sie ins Feuer. Dann sagten sie: ,Bibis, unsere Ehre ist in Gefahr. Sollen wir unsere Ehre retten oder unsere Kinder?‘ Und dann warfen sie eine nach der anderen ihre Kinder ins Feuer ... Meine Mutter packte mich und legte mich neben die Leiche meines Vaters. Überall waren Feuer, und ich hatte schrecklichen Durst wegen der Hitze. Meine Beine brannten. Später bin ich dann aufgestanden. Meine Hände waren zerschnitten, überall war Blut. Ich war am ganzen Körper verbrannt. Ich fiel hin ... ging über Dornen, riesige Dornen, aber ich hab' nichts gefühlt.“

Maya Rani hat eine andere Geschichte zu erzählen. Sie war damals 16 und arbeitete als Putzfrau in einer Schule in Batala. Leute, die putzten, gehörten zur Kaste der Unberührbaren, sie waren ganz offiziell aus der Gesellschaft verstoßen. Aber in diesem Fall wurde ihnen die alte Diskriminierung oft zur Rettung.

„Ob wir Angst hatten? Nein, ... keines der Kinder aus der Gegend, keiner von uns hatte Angst. Manchmal kletterten wir von unserem Dach auf das Nachbardach, um zu sehen, was passiert. Und wir taten uns zusammen und gingen gemeinsam in die verlassenen Häuser. Da fanden wir Reis oder auch mal Mandeln. Wir sammelten alles und horteten es bei uns zu Hause. Ich sammelte auch viel Haushaltsgerät, hamams, alles für meine Hochzeit. Ich brachte viele Haushaltsgegenstände mit in die Ehe. Ich habe auch viele Steppdecken mitgenommen. Wir waren elf Mädchen. Alle sammelten wir unsere Mitgift aus den gestohlenen Sachen zusammen.“

Aber wie war sie der Gewalt entgangen? „Wir wußten, daß uns keiner verschleppen oder umbringen würde. Wir nannten uns Gottes Kinder. Weder Hindus noch Christen konnten uns etwas anhaben.“

Aber die Teilung war nicht nur eine Geschichte von Vergewaltigung und Mord. Es gab auch eine Geschichte von Freundschaften, die überdauerten, von Liebe, Zusammenhalt – und Trauer, Trauer über die Gewalt, Trauer über die Feindseligkeit, mit der man plötzlich fertig werden mußte.

Im Dezember 1947 erhielt Chaudhry Latif, ein muslimischer Flüchtling aus Indien einen Brief, schlicht adressiert „An den Bewohner“ des Hauses in Lahore, Pakistan. Der Brief kam von Harkishan Singh Bedi, dem früheren Bewohner dieses Hauses. „Ich schreibe an Sie“, schrieb Bedi, „als Mensch an einen anderen Menschen ..., denn in erster Linie sind wir Menschen und Hindus oder Musleme erst an zweiter Stelle.“ Latif und Bedi korrespondierten noch viele Jahre. Bedi beschrieb, wo er seine wertvollen Bücher und Papiere versteckt hatte. Latif schnürte sie sorgfältig in viele kleine Päckchen und schickte sie eines nach dem anderen an den früheren Bewohner seines Hauses.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen