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Volksradio selbst gemacht

■ Oase im Mediensumpf oder Sieg des Dilettantismus: Seit dem 1. 1. senden die wilden Kinder vom FSK 24 Stunden am Tag eine verjährte Revolution

Die Revolution kommt rund 49 Jahre zu spät. Seit dem 1. Januar 1998 sendet das Freie Sender Kombinat (FSK) auf der UKW-Welle 93.0 MHz auf einer sogenannten Vollfrequenz 24 Stunden lang an sechs Tagen in der Woche. Nach jahrelangem Kampf verschiedener Radioinitiativen mit der Hamburger Anstalt für neue Medien (HAM) um eine eigene Frequenz machten die Betreiberdes FSK nun endlich ihren Traum wahr: Sie verwirklichten Teile des Radiokonzepts von Bertolt Brecht. Der linke Literat, Regisseur und Medientheoretiker schwärmte bereits 1929 von einem Hörfunk als Massenmedium, also einem Medium, das nicht bloß die Massen berieseln, sondern – sozusagen – vom Volk selbst gemacht werden und so als Kommunikationsmittel des Proletariats die Umwälzung der Gesellschaft vorantreiben sollte.

Der Silvesterabend kam, und während sich die Erdbevölkerung aufs neue Jahr freute, klärten die linken Medienmacher aus dem Schanzenviertel getreu ihrem Prinzip der medialen Gegenöffentlichkeit die Hörerschaft über die nationalsozialistische Vergangenheit der Deutschen auf. Das warf auch bei treuen FSK-Hörern folgende Fragen auf: Müssen Anhänger der deutschen Linken auch immer gleichzeitig Anhänger der Tristesse sein? Warum strahlten die Moderatoren am Vorabend ihres Festtages statt viel Freude soviel Verlegenheit aus? Wieso bloß hatten die FSK-Moderatoren am Silvesterabend und am Neujahrstag nicht den Mut zur medialen Anarchie und zur menschlichen Unbekümmertheit?

Denn am Tag eins des Vollprogramms wollten die Radiopädagogen feiern, jubeln und schreien, das hatten sie versprochen über den Äther und luden alle Hörer ins Sendestudio im Schulterblatt ein. Im brechtschen Sinne der totalen und wilden Kommunikation gratulierten einige Hörer brav übers Telefon zum Start des antikommerziellen Radios ohne Werbung und boten Sendeideen an. Andere schickten Faxe. Ein Mann beispielsweise fand, FSK sei für ihn der beste Sender – gleich nach Alsterradio. Das irritierte die Radiomacher im Sendezentrum.

Zwischendurch erklärten die Medienmacher ihr Radiokonzept, warben für Vereinsmitglieder und Spendengelder, dann legten sie einige gute Platten auf: die John Spencer Blues Explosion, Blondie und die Pixies ersetzten die nüchterne Euphorie der Moderatoren, und auch Pippi Langstrumpf durfte singen, und das auf schwedisch. Am Abend unterhielt FSK seine Hörer mit einem Special über finnische Tangomusik. Das war interessant und paßte zur Nostalgie an einem Neujahrsabend.

Den ganzen Neujahrstag freuten sich die Radiomacher von FSK wie scheue Kinder über ihren Mediencoup. Im Zeitalter der Diktatur der Kommerzmedien, deren größtes Ideal die informative Durchdringung aller Gesellschaftsbereiche sein soll, aber deren größtes Verbrechen in Wahrheit darin besteht, mehr und mehr die realen Bilder in den Köpfen der Menschen durch mediale Scheinwelten zu ersetzen, in dieser Welt wirkt das FSK mit all dem Dilettantismus seiner Macher wie eine menschliche Oase im stinkenden Mediensumpf.

Vito Avantario

Programm heute: 8-9.30 Uhr: John Peel's Music, 9.30-10 Radio-Brainstorming, 10-13 Charles Mingus-Feature; 13-16 Best of Redaktion 3; 16-18 FSK Highlights; 18-20 Women's Voices; 20-21.30 Claudia Gonzalez und Gast.

FSK liegt auf der UKW-Frequenz 93.0 MHz (101.4 im Kabelnetz).

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