: Spaß haben macht Arbeit
Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt, blinken die roten Herzen im wintergrauen Ruhrpott. In der Pionierrepublik Bochumer Schauspielhaus ist Halbzeit: Seit zweieinhalb Jahren schuften Leander Haußmann und die Seinen im Dienste der kollektiven Fröhlichkeit ■ Von Matthias Wolf
Kahlgeschorener Kopf, lauernd gespannter Körper, Rücken zum Publikum. Gefangen in der bedrückenden Enge, die sich hinten verengt, ansteigt, abschließt. Zum Fehlfarben-Song „Nichts erreicht meine Welt“ steht Walter Fessel (Samir Osman) vor der Tür, durch die er ins Freie will. Das Morgenrot des Aufruhrs glimmt in der Öffnung. Tanzt er im Grau des Gegenlichts, schlägt sein Kopf hart hin und her. Fällt Licht auf ihn, hält er erschrocken inne und verbirgt sein Gesicht. Der Sohn, der den Vater morden wird.
„Vatermord“: Dem 17jährigen Gymnasiasten Arnolt Bronnen passierte dieser visionäre Text im Vorkrieg. Ein Geniestreich. Brecht, der ihn bewunderte, scheiterte 1922 als Regisseur daran. Der Schauspieler Uwe Dag Berlin hat das Drama nun in den Kammerspielen des Bochumer Schauspielhauses mit brutaler Intelligenz inszeniert, Premiere war am 19. Dezember. Ein fulminanter Wurf der Mittdreißiger, die dort seit zweieinhalb Jahren Verantwortung tragen. Jugend als Genie.
Das Schauspielhaus in Bochum liegt da wie ein Supertanker unter den Stadttheatern, backsteinerne Moderne, gestrandet an der Königsallee. Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt, blinken rote Herzen im wintergrauen Ruhrpott. Ein Sarkophag für begrabene Hoffnungen war es unter dem vorigen Intendanten Frank-Patrick Steckel am Ende geworden, sagt W., ein gebürtiger Bochumer. Man habe mitgelitten, so wie man sich früher Bestätigung für die eigenen Utopien geholt hat. S., die erst seit 1990 in Bochum wohnt, meint, damals sei oft eine graue Wand aus Depression auf das Publikum niedergestürzt. Man habe sich erschießen wollen, wenn man aus Steckels Aufführungen kam. Verlustschmerz. Ein geschlossenes Haus.
Seit Herbst 1995 ist es nun weit geöffnet, es gibt Luft zum Atmen und als Erkennungszeichen das rote Herz, mal lustig blinkend, mal mit Strahlenkranz. „Viel Spaß“ war angesagt, der meist falsch adressiert war. Spaß haben macht Arbeit. Nicht nur dem Publikum. Hier wird geschuftet. Silvester könne man im Schauspielhaus ganz super feiern, aber was die da politisch machen, das sei alles nix, befindet B., die sonst lieber einen großen Bogen ums Theater macht.
Die Mitte der Intendanz Haußmann verstreicht in Bochum unbemerkt. Das Schauspiel ist allein zu Haus, die Leitung ist kurz vor Weihnachten auswärts. Leander, wie er mit Samt in der Stimme in den Gängen genannt wird, operettet in München „Die Fledermaus“, Jürgen Kruse shepard in Berlin „The Unseen Hand“ an Castorfs Volksbühne, und Dimiter Gottscheff kümmert sich in Hamburg derzeit um Lothar Trolles „Hermes in der Stadt“.
Was soll's? fragte sich schon das Publikum am Ende des achtstündigen Eröffnungsmarathons mit Tschechows „Vaterlosen“, was soll das ganze Theater, wenn alle übers Wetter reden und nebenan auf dem Sofa ein Mensch an gebrochenem Herzen stirbt. Die Geniestreiche der Klassiker haben es den jungen Regisseuren angetan. Ihr Lebensgefühl spiegelt sich in „Platonov“ von Tschechow ebenso wie jetzt in Bronnens „Vatermord“. Dazwischen gab es viel Erfreuliches und manch Ärgerliches zu sehen, die Assistenten rücken in Regiepositionen vor.
In Gera war's, in Thüringen 1986. Frank Castorf inszenierte „Clavigo“, zwei Schauspielanfänger verbreiteten damals viel Spaß, charmant und clownesk. Leander Haußmann und Uwe Dag Berlin als doppelter Carlos setzten voll Revoluzzerlust dem badewannenversunkenen Karrieristen Clavigo arg zu. „Keine Macht für niemand“, Buhs und Beifall, Stones- Gedröhn mit „You can't always get what you want“. Was sie bekamen, war Parchim, Provinztheater in Mecklenburg, als Zukunft hält dort mal der Transrapid. Uwe Dag Berlin gab einen sprichwörtlichen „Kap der Unruhe“, Haußmann inszenierte Ibsen, wurde entdeckt. Er kam nach Weimar, wurde nach München geholt, der Rest ist Karriere.
Parchim war eine Keimzelle für Bochum, mit dabei waren damals Steffen Schult und Irene Christ. Heute gehören sie zu Haußmanns besten Kräften an der Königsallee. „Shorties Luxus“ heißt Schults Personality-Nummer im ZadEck, der kleinen Kellerbühne. In den Haußmann-Inszenierungen geistert er meist als externe Figur, als Spielmeister, durchs Geschehen und darf auch mal, wie in Heiner Müllers „Germania 3“, seine Mutti in Eberswalde-Finow von der Bühne grüßen.
„Motivationstechnisch“ gesehen hat Haußmann den Ensemblegedanken glücklich verwirklicht: Ein überlastetes Haus arbeitet rund um die Uhr. „Anstalt mit Heimschläfern“ nennt die Schauspielerin Irene Christ ihren Arbeitsplatz voller Achtung, während der Intendant der Öffentlichkeit versprochen hat, die Bretter zu einer „vergnüglichen Anstalt“ zu machen.
Zur Bergfestfeier in der Pionierrepublik am Werbellinsee oder zur Halbzeit, wie es beim VfL heißen würde, gibt es im Großen Haus auch Michael Frayns „Der nackte Wahnsinn“, Premiere war am 21. Dezember. Karin Henkel dirigiert das Bochumer Ensemble als Panikorchester beim Einbruch des Alltags in die Bühne. Ein Tourneetheater spielt Farce, Boulevard, aber intelligent geschnitten. Wenn man's mag, mag man's mögen. Schenkelklopfen garantiert. Wer Text spricht, redet Unsinn. Tür auf, Tür zu – „In diesem Haus ist was nicht geheuer“. Drei Schleifen spielt die Inszenierung, am Schluß sitzen alle auf dem Sofa, und der Regisseur wird als Sozialarbeiter entlarvt, „der nette Mann, der uns besucht und sagt, was wir machen sollen“. Leider hat er seine Assistentin geschwängert...
Überhaupt, die Frauen. Acht junge in Bochum, das ist Quotenrekord. Keine Topstars, aber alle gut. Überdurchschnittliches wird hier geleistet, hart und ernsthaft gearbeitet. Die Spaßbude ist üble Nachrede, Stories übers Theater ums Theater machen das oft vergessen. Wenn der Intendant seinen Hausregisseur Jürgen Kruse in der Kantine nachts um drei ziemlich böse verprügelt, landet das im Jahresrückblick der bunten Blätter, unter der Rubrik „Kultur“ und nicht unter „Sport“. Für welche Leistung Haußmann Popstar geworden sein will, weiß er wohl selbst nicht so genau. Da ihn aber jüngst Jim Rakete ablichtete, wird es wohl stimmen.
„Das müssen wir alles ignorieren“, sagt Dramaturg Andreas Marber, der aus Stuttgart kam, zuständig für die Uraufführungen. Klar, „die Leute sind das Programm“, Inhalte ergäben sich eher zufällig. Aber das wichtigste sei, eine „brodelnde Urmasse zu erzeugen“ und den Schlaf zu vermeiden, der andere Häuser befallen habe. Veränderung ist in Bochum Programm und das Theater ein Ort der Freiheit.
Der strikt auf fünf Jahre begrenzte Zeitraum der Intendanz Haußmanns hilft auch, überflüssige Kompromisse zu vermeiden. Es gehe nicht darum, Väter zu morden, aber aufzuräumen mit Schlamperei und geistiger Verwahrlosung. „Wir wollen nicht abrechnen, sondern besser arbeiten.“ Schließlich habe man die Positionen nicht erkämpfen müssen. „Die Vaterlosen“ taugen als Metapher. Die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit ist eine Idee des Spielplans, Marbers in Bochum uraufgeführtes Stück „Rimbaud in Eisenhüttenstadt“ kommt nächstes Jahr in London heraus. Ein Drama über Prinzessin Diana („Himmels Königin“) ist in Arbeit.
Born in GDR. Spielt die Herkunft noch eine Rolle? Demonstrativ aufgesprungen war Leander Haußmann, als auf der Germania- Party das Lied seines Lieblingsfeindes Hartmut König, Kulturboß der verblichenen Freien Deutschen Jugend, erklang: Der Mann habe ihn so gequält. Der Text: „Sag mir, wo du stehst und welchen Weg du gehst...“ Das hatte aber Haußmann schon der versammelten DDR-Theaterjugend im Sommer 1989 anläßlich der Nachwuchs- werkstatt ins Stammbuch geschrieben: „Ein Lebensgefühl interessiert mich mehr als die konkrete politische Aussage.“
Uwe Dag Berlin hat es auf den eisernen Vorhang geknallt, als Motto des „Vatermords“ stehen George Orwells Worte aus seinem prophetischen Buch „1984“: „Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft. Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.“ Heiner Stadelmann spielt, zur Hochform aufgelaufen, den hilflosen Vater, er hatte schon in Berlins Inszenierung von Joshua Sobol/Niklas Franks „Der Vater“ die monströse Banalität deutscher Herrenmenschen entblättert. Samir Osman, der in seinem fulminanten Debüt einen atemlos hassenden Sohn Walter Fessel gibt, ist in Zwickau/ Sachsen geboren. Gelernt hat er bei „Ernst Busch“, sagt er und meint damit die Ostberliner Schauspielschule. „Ich will Bauer werden“, brüllt er seinem tyrannischen Vater entgegen. „Bochum ist auch Provinz, wie Parchim, nur auf einem anderen Niveau“, sagt Uwe Dag Berlin.
„Teutschland am Wochenende“ heißt das Arrangement, mit dem das Theater Mitte Januar an drei Tagen die letzten Zweifel an der lustvollen Ernsthaftigkeit seines Anspruchs zerstreuen will. Zu sehen sind dann die erfolgreichen Haußmann-Inszenierungen „Germania 3“ und „Dantons Tod“ sowie Uwe Dag Berlins Arbeit „Der Vater“. „Yes, it's fucking political“, schreit Skunk Anansie, die kahlköpfige Königin der britischen Poprebellen, aus dem Radiorecorder einer Clique am Bahnhof gegenüber, „everything's political.“
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