Exodus aus Damaskus

Seit Syriens Präsident ihnen Ausreisefreiheit gewährte, haben die meisten Juden die Stadt verlassen  ■ Aus Damaskus Thomas Dreger

Es ist leicht, die Judengasse von Damaskus zu übersehen. Im Osten der verwinkelten syrischen Altstadt liegt sie, irgendwo zwischen den Stadttoren Bab Tuma und Bab Scharki. Die Gasse ist vielleicht 200 Meter lang und drei Meter breit. Sie wird von alten, dicht nebeneinander gebauten orientalischen Häusern gesäumt. Nur über einer einzigen Haustür sind verblichene hebräische Schriftzeichen zu erkennen. Sonst fallen zahlreiche, mit schweren Ketten und Vorhängeschlössern verriegelte Türen auf. Der Ort ist fast menschenleer.

„Sie sind ausgewandert. Alle sind ausgewandert“, erklärt eine vielleicht sechzigjährige Frau. Die Erklärung: Die Bewohner der jetzt verrammelten Häuser waren Juden – ebenso wie sie. „Bis 1992 war es für Juden verboten, aus Syrien auszureisen. Dann hat uns Hafis al- Assad die Freiheit gegeben, und plötzlich waren alle weg – nach Brooklyn.“ Auch ihre Familie sei ausgewandert. Sie selbst fühle sich als Syrerin. „Mein Urururgroßvater stammt von hier. Meine Wurzeln sind syrisch“, sagt sie erregt. Aber jetzt seien nur noch sie und ihr Bruder da. Deshalb habe sie sich jetzt auch entschlossen, auszureisen und ihren einstigen Nachbarn nach New York zu folgen. Denn: „Das jüdische Leben hier ist zu Ende.“

Die jüdische Gemeinde von Damaskus ist eine der ältesten der Welt. Noch Anfang der 90er Jahre lebten etwa 5.000 Juden in der syrischen Hauptstadt. Dann begann der Friedensprozeß im Nahen Osten, und als Zeichen des guten Willens gegenüber Israel und den USA hob Staatschef Hafis al-Assad die restriktiven Reisebestimmungen für Juden auf. Binnen weniger Wochen waren die meisten verschwunden. Sie hatten ihr Hab und Gut verkauft und ein Flugticket erstanden. Offizielles Reiseziel waren fast immer die USA. Israel als Ziel anzugeben, ist in Syrien auch heute noch tabu. Wer nachweislich dort war, darf nie wieder nach Syrien. Denn bislang gibt es zwischen beiden Staaten kein Friedensabkommen.

Hinter einer unscheinbaren Blechtür verbirgt sich eine der letzten geöffneten Synagogen von Damaskus. Früher waren hier in der Altstadt rund zwanzig jüdische Gotteshäuser morgens und abends geöffnet, heute sind es noch zwei. In dem mit Kronleuchtern, Stuck und goldenen Verzierungen prächtig geschmückten Innenraum haben sich einige Gläubige zum Sabbat-Gottesdienst versammelt. Die meisten von ihnen sind im Greisenalter. Nur ein junger Mann ist dabei, und zwei Kinder tollen während der Andacht herum – die letzten Juden von Damaskus. Ihre Gesamtzahl wird heute auf knapp 200 geschätzt. Ein beleibter Herr liest von einer Kanzel aus der Thora vor. Immer wieder fallen die Anwesenden im Chor mit ein. Nach einer halben Stunde ist der Rezitator schweißgebadet. „Yah Israel!“ rufen die Anwesenden. Dann ist der Gottesdienst beendet.

„Ich weiß nicht genau, was für Texte wir hier lesen“, erklärt der junge Mann auf Nachfrage, „ich bin nicht besonders religiös.“ Murat Dschadschati entpuppt sich als der Sohn von Jussef Dschadschati, dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde der Syrischen Arabischen Republik. Der will, bevor er mit ausländischen Journalisten spricht, erst einmal mit dem Informationsministerium telefonieren. Zwei Tage später lädt er in sein Geschäft.

Der Laden liegt im modernen Zentrum von Damaskus, einem hauptsächlich von Muslimen bewohnten Stadtteil. „Grand Magasin“ hat der gut fünfzigjährige Dschadschati, der fließend und gerne französisch spricht, sein Herrenausstattungsgeschäft genannt. Neben maßgeschneiderten Anzügen gibt es hier teure Uhren. Eine Etage höher, hinter einem großen, aber leeren Schreibtisch, hängen zwei Fotos. Dschadschati beim Handschlag mit Syriens Staatschef Assad, Dschadschati mit Roman Herzog und Ignatz Bubis bei einer Visite in Berlin.

„Die Leute sind aus bloßer Neugierde ausgewandert“, erklärt Dschadschati, „völlig unüberlegt.“ Jetzt würden viele den Schritt bereuen, aber: „Die meisten haben ihr Hab und Gut verkauft, ihre gesamte Existenz aufgegeben.“ Zwar würde der syrische Staat sie wieder mit offenen Armen aufnehmen. Doch zurück in Damaskus, müßten sie wieder bei Null anfangen.

Politische Gründe für die Auswanderung seiner GlaubensgenossInnen mag er nicht erkennen. „Hafis al-Assad hat die Juden immer beschützt. Ich habe den Präsidenten viermal getroffen, und er hat immer ein offenes Ohr für unsere Probleme gehabt“, berichtet Dschadschati. Dann ergießt er sich in das landesübliche Lob auf den syrischen Staatschef, der Kritik noch immer mit unberechenbaren Repressalien ahndet.

Doch das Lob hat auch einen realen Hintergrund: Als 1973 die israelische Armee Damaskus bedrohte, schickte Assad Truppen in das Judenviertel – um die Einwohner vor Pogromen zu schützen. Von Assads Engagement für die Juden zeugt ein Holzhäuschen am Eingang des jüdischen Viertels. Darin sitzt ein bewaffneter Posten — ein Vertreter des Muchabarat, der Geheimpolizei.

„Ja, das sind die Geheimen“, räumt Dschadschati ein. „Die Geheimpolizei sorgt dafür, daß die Juden keine Probleme mit ihren Mitbewohnern bekommen. In dem Viertel leben auch Palästinenser, Kurden, Armenier und sogar Iraner. Wir haben selbst um den Schutz gebeten und wir sind der syrischen Staatsführung dankbar, daß sie um unser Wohl besorgt ist.“

Was der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde nicht erwähnt: Die Geheimen achten auch darauf, daß sich unter den Juden keine Opposition gegen das Regime regt. Menschenrechtsorganisationen registrieren unter Assads Herrschaft immer wieder Juden, die aus politischen Gründen inhaftiert sind. Jüdische Organisationen beklagten bis 1992, Assad halte die syrischen Juden quasi als Geiseln, um Israel zu erpressen. Weil die syrische Staatsführung der jüdischen Minderheit nicht traut, ist sie bis heute vom Militärdienst ausgeschlossen und in der Politik praktisch nicht vertreten. Statt dessen konzentrierten sich die syrischen Juden auf das Geschäftsleben. Teilweise sehr erfolgreich. Bis zu der Ausreisewelle hatten die meisten der Juweliergeschäfte der Stadt jüdische Besitzer. Doch der geschäftliche Erfolg brachte den Juden auch Anfeindungen von der nichtjüdischen Bevölkerung ein.

Seit die jüdische Gemeinde von Damaskus auf einen kleinen Rest reduziert ist, haben die Verbliebenen Probleme mit der Einhaltung ihrer religiösen Vorschriften. „Alle Rabbis haben das Land verlassen“, erklärt Dschadschati. Zur rituellen Schlachtung von Tieren und zur Beschneidung von Jungen müsse dehalb Personal aus der Türkei einreisen. Doch, so Dschadschati: „Wir danken den syrischen Behörden, daß sie diese jüdischen Geistlichen unbürokratisch ein- und ausreisen lassen.“

Für Dschadschati ist klar, daß er in Syrien bleiben wird. Er ist erfolgreich und – zumindest nach außen – absolut loyal zur Staatsführung, die er selbst einkleidet. „Ich bin Syrer, Araber und Jude“ umreißt er die Eckpunkte seiner Existenz. Seine Familie sei seit Generationen in Damaskus beheimatet, und er sehe er sich als Bürger der Syrischen Arabischen Republik. Die Jüdische Gemeinde von Damaskus sei zwar stark dezimiert, doch gänzlich aussterben werde sie nicht. Später einmal werde sein Sohn sein Geschäft übernehmen — und vielleicht auch den Vorsitz der Jüdischen Gemeind. Doch bei dem Satz runzelt letzterer die Stirn. Und als der Vater einmal nicht so richtig zuhört, sagt der ernste junge Mann: „Eigentlich kann ich mir meine Zukunft besser im Ausland vorstellen als hier.“

Gegenüber der Synagoge in der Judengasse wohnt eine christliche arabische Familie. Jahrzehntelang hat Aischa, die Familienmutter, beobachtet, wie Juden sich vor ihrer Haustür zum Gebet versammelten. Es habe keine Anfeindungen gegeben, berichtet sie im Innenhof ihrer Hauses. Doch warm geworden sei sie mit ihren jüdischen Nachbarn nicht. „Wir haben ihnen nie getraut“, erinnert sich die Mittvierzigerin. „Sie haben zusammengesessen und ihre Geheimnisse gehabt. Sie haben hier gelebt, aber sie haben nie zu uns gehört. Ich glaube, in ihren Herzen waren sie immer Israel verbunden.“