■ Kurdische Flüchtlinge auf dem Weg in die Europäische Union: Ein Streich von Kanther und Öcalan?
Solche Gelegenheiten können sich deutsche Sicherheitsexperten nicht entgehen lassen. Als hätte man nur darauf gewartet, rührt der bayerische Grenzschutz die Blechtrommel. 10.000 Kurden stünden bereit, 20 Schiffe seien startklar, eine ganze Armada quillt da angeblich aus den Dardanellen und hält Kurs auf die bayerische Grenze, behauptet deren Chef in der Welt am Sonntag. Woher der gute Mann das eigentlich wissen will, blieb unklar; daß seine vorgesetzte Behörde seine Angaben nicht bestätigt und er selbst einen Tag später einen Rückzieher macht, ist unwichtig. Angesichts der Bilder aus Italien hat der neue Ansturm sich in den Köpfen bereits festgesetzt. Das hat Stoiber ja schon immer gesagt, und Kanther hat ihn unterstützt: Die Öffnung der Grenze zu Italien, dem bröckeligen Südflügel der europäischen Festung, könne man sich nicht leisten, die Italiener seien einfach unfähig, den Ansturm der Armen auf den reichen Norden abzufangen. Schengen hin oder her, die Österreicher, die Bayern machen wieder dicht. Bundesinnenminister Kanther kann zufrieden sein.
Aber auch der Außenminister ist mit wohlfeilen Ratschlägen dabei. Was jahrelanger Druck von Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen nicht bewirken konnte, schaffen einige hundert Flüchtlinge in wenigen Tagen. Kinkel schlägt sich verbal auf die Seite der Unterdrückten. Ankara, so der Außenminister, solle endlich für die Einhaltung der Menschenrechte in den kurdischen Regionen des Landes sorgen. Vielleicht schickt die Bundesregierung ja demnächst statt Panzer Broschüren zur Konfliktprävention nach Ankara – vor Jahren wäre das sicher eine gute Idee gewesen.
Wenn die bislang verfügbaren Hinweise auf die Organisatoren der Flüchtlingsschiffe richtig sind, ist die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) einer der Drahtzieher. Tatsächlich könnte die ganze Aktion außer Kanther vor allen Dingen auch PKK-Chef Abdullah Öcalan nützen. Die PKK will den Konflikt um Kurdistan internationalisieren. Das ist zwar richtig: Die türkische Position, es handele sich um eine interne Terrorbekämpfung, bei der man sich jede Einmischung verbitte, war schon immer eine üble Verdrehung der Tatsachen. Diese Internationalisierung auf dem Rücken kurdischer Flüchtlinge zu versuchen, hätte für diese übel ausgehen können. Jetzt sieht es so aus, als würde wenigstens Italien die Beschlüsse von Luxemburg ernst nehmen und die Kurden als politisch verfolgte Gruppe anerkennen. Falls Rom nicht vor dem zu erwartenden Protest aus Bonn wieder einknickt, wäre Öcalan einen guten Schritt weitergekommen, und Kanther würde um so mehr darauf drängen, die Grenzen zu Italien wieder dichtzumachen. Jürgen Gottschlich
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