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Einer flog über das Liebesnest

Mit „Der verruchte Ort“ zeigt der 97jährige Julien Green einmal mehr, daß es einen besseren Platz als die Erde geben muß – aber der Tod kommt nie schlummernd  ■ Von Michael Westphal

Le mauvais lieu, jetzt als „Der verruchte Ort“ erschienen, könnte als Pranger jeden Roman aus der Schreibstube Julien Greens zieren. Kein Ort verfügt in seiner Romanwelt über eine friedliche Aufenthaltsqualität. Es überwiegt „Dunkelheit und Unheimlichkeit“, überall lauern „Gefährdungen und Schrecknisse aller Art“. Wer wollte bezweifeln, daß der fast 100jährige Green, der ausgemachte Spezialist für den schrecklichen Ort ist, in dem ein „Maximum an Unannehmlichkeiten, Gefahren und Schrecken“ wie ein de Sadesches Martyrium auf seine Romanfiguren wartet.

Bei manchen Schriftstellern kommt man nicht umhin, biographische Spekulationen anzustellen, gar kreativitätspsychologische Aspekte zu bemühen, um ein Werk überhaupt erfassen zu können. Julien Green ist so einer. Hatte er erst im vergangenen Jahr der Académie française, deren Ehrenmitglied er war, flugs den Rücken gekehrt, so überraschte der Greis unlängst, als er sich ein luxuriöses Mausoleum in einer kleinen Klagenfurter Kapelle hat herrichten lassen, um dereinst darin seine Gebeine zur letzten Ruhe zu lagern. Damit hat er – der mit wenigen Unterbrechungen in Paris lebte – seinem Affront an den französischen Eliteverein noch eins draufgesetzt. Fernab nun von Frankreich wird die polierte Grabplatte seinen Namen zieren: Einmal schreibt er sich darauf Julien, ein zweites Mal Julian. Der so beauftragte Steinmetz wird sich vielleicht seinen Teil dabei gedacht haben. Julien Green aber – ganz gewiß: der strenggläubige Katholik – hat mit diesem ultimativen Bonmot dem Weltlichen ein für allemal adieu gesagt und weiß sich noch vor der Überführung seiner Überreste an einem weit besseren Ort. In der Welt habt ihr Angst, doch siehe, ich habe die Welt überwunden! – mit diesen geflügelten Matthäus-Worten hätte er es auch sagen können, freilich kostspieliger.

Der Alte hadert, die Jugend stirbt

Genau diese transzendentale Gnade jedoch gewährt der Franzose nicht einem einzigen seiner Romanhelden. Das ist empörend: Während der Schriftsteller sich um die Gestaltung seiner Grabplatte bemüht, leidet derweil sein zumeist jugendlicher Protagonist unsägliche Seelenqualen; während der Schriftsteller an seiner Austrittserklärung für die Académie doktert, richtet die junge Heldin in „Der Übeltäter“ den Revolver auf die eigene Brust, um sich Befreiung zu verschaffen. Niemand verläßt Julien Greens grausame Romanbühne, diesen verruchten Ort, über den Hinterausgang. Der soigniert wirkende Autor giert geradezu nach seinen Opfern, schubst sie in einen gewaltsamen Tod. Ertrinken, Ersticken, Verbluten, Vergiften, Gehirnschlag, Feuer: Die Bandbreite Greens läßt nichts zu wünschen übrig. Kein Tod kommt schlummernd daher.

Diese zur Schau gestellten misanthropischen Züge in seinem ×uvre schreien förmlich nach Aufklärung. Doch bis auf die erwähnten Alterszickigkeiten fallen bei Green, dessen ganzes Schreiben – nach eigenen Auskünften – im Dienst einer glücklichen Kindheit steht, keine besonderen Vorkommnisse auf. Doch halt! Da wäre der frühe Tod der über allem stehenden Mutter. Voller Inbrunst läßt er den von Gott und der Welt allein gelassenen Knaben in seiner Autobiographie „Junge Jahre“ lebendig werden, der sich fortan von den ihn hätschelnden Schwestern und einem Vater, der ihm stets fremd bleibt, umgeben sieht. Wie ausgesetzt wirkt auch Moira im gleichnamigen Roman, die kleine Hélène nach dem Tod der Mutter in Greens märchenhaftem „Varuna“. Waise ist Manuel in „Der Geisterseher“ und auch die Protagonistin Louise in „Der verruchte Ort“, der nun wieder aufgelegte Roman, der bereits vor 20 Jahren in Frankreich erschien. Und da war Green immerhin schon 77 Jahre alt.

18 Jahre alt war Green, als Otto Rank, Freuds begabtester Schüler, in einer Abhandlung über die besonders zu berücksichtigende Psychologie des Künstlers schrieb: „Die Lust am Untergange des Helden, an seinem ,Tode‘, auf der das tragische Mitleiden ruht, ist ... eine verfeinerte, sublimierte Form des sadistischen Grausamkeitstriebes, der namentlich in seinen Vedrängungsformen eine wichtige Triebquelle für das künstlerische Schaffen jeder Art liefert ...“ Rank war es nicht darum bestellt, psychopathologische Strukturen als Voraussetzungen für künstlerische Prozesse zu behaupten, seine Ausführungen nährten sich vielmehr aus einer Grundannahme: „Der Künstler ringt sein ganzes Leben hindurch mit Konflikten, für deren Wahrnehmung der normal entwickelte Mensch schon frühzeitig unempfindlich wird.“

„Die Liebe ist die Hölle“, behauptet denn auch Gustave, eine der armseligen Gestalten in „Der verruchte Ort“, ein Pädophiler, der die kleine Louise zu deflorieren gedenkt, noch bevor sie für ihn unerträgliche weibliche Formen ausgeprägt hat. Gertrude, seine Schwester, Witwe nach glückloser Ehe, hat das verwaiste Kind bislang in ihrem Haus inventarisiert. Das Kind ist Spielball ihrer Anwandlungen und suggeriert der Unbefriedigten den Hauch eines Lebenssinns, wie es der Donnerstag als jour fixe darstellt, an dem sich die Abgetakelten der Stadt im bigotten Salon einfinden, um sich Woche für Woche die unwiderstehlichen Pasteten, Eclairs und Petit fours des Konditors Gloppe einzuverleiben.

Das bewirkt zweierlei: Durch diese wiederkehrenden Freßorgien ist die Gesellschaft per se als lüstern und unersättlich apostrophiert, und beim Lesen von derlei kleinen Köstlichkeiten läuft einem rasch das Wasser im Mund zusammen. Der Leser also auch ein Lüstling – ein Gourmand, nicht besser als die anderen? Aber auch gleich so gierig? „Plötzlich beugte sie sich weit vor, legte eine Hand auf ihre Brust, nahm mit der anderen geziert ein Tortlett und verschlang es. Es ging so schnell, daß sie selbst erstaunt war. Hätte sie während dieses Vorgangs ihr Gesicht im Spiegel sehen können, die hervorquellenden Augen, den kleinen, jetzt weit aufgerissenen Mund, sie wäre entsetzt gewesen.“

Während Green die weiblichen Teilnehmer der Donnerstagsgesellschaft danach ihrem weiteren Verfall überantwortet, schickt er die Altherren und Lustmolche ins schmuddelige Liebesnest [kursiv i. Original], wo sie ihren Gelüsten – tief in die Tasche greifend – nachhängen können. Gegenseitige Verunglimpfungen gehören dabei zum gezielten Ablenkungsmanöver eigener Perversitäten. Selbstredend fliegt am Ende nicht nur das Liebesnest auf, der Autor enthebelt die ganze (Donnerstags-)Gesellschaft. Nachzählbar bleiben dabei vier Personen auf der Strecke, die anderen müssen – ein schlimmeres Los – weiterleben.

Der Fensterblick, ein verschwenderisches Motiv bei Julien Green, kommt auch in „Der verruchte Ort“ vielfach zum Einsatz. Gertrude erspäht aus der Beletage den muskulösen Mann, der auf dem Trottoir die Pflastersteine erneuert. Der hinter dem schützenden Vorhang genehmigte Ausblick gemahnt, daß unzählige Petit fours und Pralinen nur ein unzureichendes Surrogat für die fehlende Sexualität sein können: „Nein, was wirklich noch seltsamer war, geschah jenseits des Fensters, auf der Straße. Beim Anblick des knienden Arbeiters hatte Gertrude das Gefühl, daß sie sich gleich an etwas erinnern würde ...“ Und da war sie wieder, die blühende Altersphantasie des Romanciers, der aus seinem Fenster schaut und sich der Unerreichbarkeit seines eigenen Wunsches bewußt wird.

Das Ich muß draußen bleiben

Das Ich in der Wohnung und das Ich auf der Straße bleiben für immer getrennt: „Seit einigen Jahren“ – notiert Green in seinen überbordenden „Tagebüchern“ – „nimmt dieses Problem des Fensters, das nicht aufgehen will, in meinem Leben immer mehr Bedeutung an. Allgemein ist es das Problem des Lebens. Entfliehen...“ Louise, die pubertierende Waise, die in der Enge des Hauses zu ersticken droht und sich ihrer sexuellen Begierden bewußt wird, kann ebenfalls von diesem berauschenden Fensterblick nicht lassen. In ihrem Kampf um das Erwachen des Geschlechtlichen ähnelt sie dem umtriebigen Knaben in Greens „Jugend“ und „Junge Jahre“, der sich nächtens aus dem Haus stiehlt und in den Parks vis à vis der Seine dem kurzen homosexuellen Glück nachstellt.

„... so entstehen unsere Bücher aus unserer Substanz“ – notiert Green und kommt dabei den Mutmaßungen Otto Ranks recht nahe: „Aber schließlich hat ja die ,Phantasiegestalt‘ des dramatischen Helden ihr wirkliches Korrelat im Künstler selbst, der sich in seinem Helden idealisiert; was an Fehlern und Schwächen im Künstler ist, das fügt er den personifizierten Widerständen hinzu.“

Julien Green: „Der verruchte Ort“. Roman. Aus dem Französischen von Gerhard Heller, Hanser Verlag, München 1997, 240 Seiten, 39,80 DM

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