: Das Blut versperrt die Sicht
Für die Medien sind Ausmaß und Urheberschaft der algerischen Massaker nicht nachprüfbar. Aber Forderungen nach mehr Offenheit lehnt Algeriens Regierung ab ■ Von Reiner Wandler
Die Erklärungen der algerischen Regierung nach jeder neuen Schreckensmeldung gleichen sich. „Islamistische Terroristen“ werden automatisch als Urheber genannt, die von der Presse veröffentlichten Opferzahlen werden auf weniger als ein Viertel gedrückt. Warum die Armee immer wieder zu spät kommt und warum die angeblich „versprengten Restgruppen“ auch dort zuschlagen, wo nach großangelegten Militäroperationen ihre „endgültige Ausrottung“ gefeiert wurde, bleibt ebenso unklar wie die Frage nach angeblicher Infiltrierung der für die Massaker als verantwortlich geltenden Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) durch den militärischen Geheimdienst, wie sie Deserteure wiederholt angeklagt haben.
Nach dem blutigen Auftakt des muslimischen Fastenmonats Ramadan fordern deshalb Deutschland, Italien und selbst Frankreich und die USA eine internationale Untersuchungskommission. „Nur so können wir der Frage nach der Reichweite der Massaker auf den Grund gehen – und vielleicht klarere Schuldzuweisungen machen“, erklärte am Montag abend der Sprecher des US-Außenministeriums, James Rubin. – Die Informationslage zu Algerien ist unübersichtlich. Zwar nehmen sich die privaten Tageszeitungen, vor allem seit den großen Massakern im Spätsommer in Benthala und Rais, immer öfter das Recht heraus, trotz des bestehenden Verbotes ausführlich über Sicherheitsthemen zu berichten. Doch der Konflikt selbst macht detaillierte Recherchen vor Ort unmöglich. Wenn überhaupt, werden Massaker mit mehreren Tagen Verspätung bekannt. Selbständiges Reisen ist zu gefährlich – aber unter Polizeischutz verkommen Reisen in Massakergebiete schnell zu inszenierten Presseshows mit ausgewählten Augenzeugen.
Eine internationale Untersuchungskommission stände vor dem gleichen Problem – oder sie müßte über einen eigenen Sicherheitsdienst verfügen. Daß Algeriens Präsident Liamine Zéroual einem solchen Ansinnen zustimmen könnte, ist mehr als unwahrscheinlich. Zwar darf im Februar eine Delegation des Europaparlaments nach Algerien fahren, doch unter der Zusage, daß es sich dabei um einen rein institutionellen Besuch bei der algerischen Nationalen Volksversammlung handelt.
Den entscheidenden Schritt, über wirtschaftliche Sanktionen auf die algerische Regierung Druck auszuüben, um deren starre Haltung gegenüber dem Ausland zu brechen, will keiner tun. Einen möglichen Kaufboykott von Erdöl und Erdgas aus Algerien lehnt das US-Außenministerium als „nicht notwendig zur Umsetzung unserer Interessen“ ab. Von Deutschland, Italien und Frankreich ist kaum ein entschlosseneres Verhalten zu erwarten. Sie sind in genau dieser Reihenfolge die größten europäischen Abnehmer algerischen Erdöls.
Die Regierung in Algier weiß dies und mauert daher weiter. Die Krise sei eine innere Angelegenheit, Algerien ein souveränes Land, Kooperation mit Europa wünsche man nur bei der Verfolgung exilierter algerischer Islamisten. Das Spiel mit dem Nationalstolz fällt selbst bei denen auf fruchtbaren Boden, die sehr wohl Zweifel über den Hergang vieler Attentate äußern.
Bis auf die Front der Sozialistischen Kräfte (FFS) des im Schweizer Exil lebenden Hocine Ait Ahmed, ein Veteran des Unabhängigkeitskrieges gegen Frankreich, und die kleine trotzkistische Arbeiterpartei (PT) haben sich alle politischen Kräfte und die private Presse immer wieder entschieden gegen eine äußere Einmischung ausgesprochen. Zu mühsam wurde die Souveränität errungen, um sich jetzt einfach hineinreden zu lassen.
Weite Teile der Bevölkerung teilen diese Haltung – zumindest wird das ausländischen Besuchern nahegelegt. Das mußte in der letzten Woche auch der französische Philosoph Bernard Henri-Levy erfahren.
Nach einer Rundreise rückte er von seiner Forderung einer internationalen Untersuchung der Greuel in Algerien ab. „Die Menschen hier wollen das nicht“, begründete er seinen Meinungsumschwung. Das algerische Staatsradio interviewte ihn dankbar.
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