: Die „Sonderaktion Krakau“
■ Ein Sammelband zur systematischen Liquidierung der polnischen Intelligenz durch die Nazis erhellt, was in Deutschland kaum mehr bewußt, in Polen hingegen Unterrichtsstoff ist
„Es wird entschieden, daß die Führerschicht, die auf keinen Fall in Polen bleiben darf, in deutsche KZs kommt, während für die Unteren provisorische KZs hinter den Einsatzgruppen an der Grenze angelegt werden.“ Am 21. September 1939 erörtert Reinhard Heydrich in einer „Amtschefbesprechung“ der Sicherheitspolizei in Berlin, wie das „Juden- und Polackenproblem“ am besten zu lösen sei. Die polnische Intelligenz sei sofort „unschädlich“ zu machen und zu „liquidieren“, so daß die übrigbleibenden „primitiven Polen“ den Deutschen als „ewige Saison- und Wanderarbeiter“ zur Verfügung stünden. Die Juden seien in Ghettos zusammenzufassen, um „später eine bessere Abschubmöglichkeit zu haben“.
Am 6. November 1939 holt die Sicherheitspolizei in Krakau, der Hauptstadt des Generalgouvernements und „Polen-Reservats“, zu ihrem ersten großen Schlag gegen die Intelligenz Polens aus. „Sonderaktion Krakau“ heißt der Tarnname des Unternehmens. Die Professoren der traditionsreichen Jagiellonen-Universität gehen an diesem Montag ahnungslos ins Collegium Novum. Sie erwarten einen Vortrag über „Die Stellung des Dritten Reiches und des Nationalsozialismus zu Wissenschaft und Universität“. Eingeladen hat SS-Sturmbannführer Bruno Müller, der Chef des Einsatzkommandos 2/I der Sicherheitspolizei. Doch der „Vortrag“ dauert keine drei Minuten. Müller verhaftet alle: „Meine Herren, Ihr Beschluß, die Universität wiederzueröffnen, beweist, daß Sie sich überhaupt nicht im klaren sind über die Situation, in der Sie sich befinden. Sie werden daher Gelegenheit haben, Ihren Schritt in einem Gefangenenlager zu überlegen. Jedwede Diskussion ist zwecklos. Wer Widerstand bei der Durchführung meines Befehls leistet, wird erschossen.“ SS-Männer treiben die Gelehrten zu den bereitstehenden Lastwagen. Von Krakau geht es über Breslau bis zum KZ Sachsenhausen bei Berlin. Dort sollen die Gelehrten „liquidiert“ werden.
Doch die Verhaftung der 183 Wissenschaftler aus der Bergbau- Akademie und der Jagiellonen- Universität wird weltweit als Verbrechen gebrandmarkt. Es hagelt Proteste. Die internationale Presse berichtet über den sich rasch verschlechternden Gesundheitszustand der Gelehrten. Im Auswärtigen Amt in Berlin gehen Hunderte von Gesuchen international geachteter Wissenschaftler und förmliche Interventionen der Botschaften neutraler und mit dem Deutschen Reich befreundeter Staaten ein. Im Februar 1940 bietet Italien sogar an, den Krakauer Gelehrten Asyl zu gewähren. Mussolini selbst schaltet sich ein und spricht mit Hitler über die polnischen KZ- Häftlinge. Die „Greuelpropaganda des Auslands“ nimmt so zu, daß das Dritte Reich um sein Image zu fürchten beginnt und am 8. Februar 1940 die ersten 100 Professoren entläßt: eine in der Geschichte der NS-Lager einmalige Aktion. Doch für elf Wissenschaftler kommt die Rettung zu spät: Nach „nur“ 41 Tagen im Lager sind bereits sechs gestorben, weitere fünf sterben noch in der ersten Woche ihrer Ankunft in Krakau. Keine Chance auf Freilassung hatten drei jüdische Professoren: der Archäologe Leon Sternbach, der Philosoph Joachim Metallmann und der Geograph Wiktor Ormicki. Alle drei werden ermordet.
Während in Polen die Geschichte der „Sonderaktion Krakau“ und der 1942 gegründeten Untergrunduniversität zum Schulstoff gehören, weiß in Deutschland kaum jemand, daß dem Naziterror in Polen über 30 Prozent der Intelligenz zum Opfer fielen. Daß es ein regelrechtes Verdummungsprogramm gab, um das Nachbarvolk zu einem Sklavenheer der Deutschen werden zu lassen. Jochen August, der heute in der Jugendbegegnungsstätte Auschwitz arbeitet, hat einen Sammelband herausgegeben, der das Geschichtsbewußtsein der Deutschen wachrütteln könnte. Zwar repräsentiert die knapp 80seitige Einleitung nicht den neuesten Forschungsstand, da aber das Buch ohnehin nicht auf Fachhistoriker zielt, die des Polnischen mächtig sind, ist das nicht weiter tragisch.
Als Einstieg in das Thema „Kulturpolitik der Nazis in Polen“ ist der Sammelband hervorragend geeignet. Über 20 Zeitzeugen kommen zu Wort, berichten über die Verhaftung der Wissenschaftler am 6. November 1939, über das Leben und Sterben in den KZs Sachsenhausen und ab März 1940 in Dachau, über die Bemühungen, die Krakauer Gelehrten wieder freizubekommen. Fast alle Berichte sind zuvor in Przeglad Lekarski, der Ärztlichen Rundschau, erschienen. Hier konnten nach dem Zweiten Weltkrieg auch Texte erscheinen, die in politischen und historischen Magazinen der Zensur zum Opfer gefallen wären. August hat aber auch Zeitzeugenberichte aufgetrieben, die an entlegenen Stellen publiziert wurden und damit meist dem Vergessen anheimfielen.
Man möchte dem Buch möglichst viele Leser wünschen. So könnte beispielsweise der Fernseh-Entertainer Harald Schmidt bei der Lektüre feststellen, daß seine Polen-Witze, die die Deutschen schenkelklopfend komisch finden, in einer fatalen Tradition stehen: Nazi-Funktionäre im besetzten Polen pflegten ganz ähnlich zu „scherzen“. Gabriele Lesser
Jochen August (Hrsg.): „Sonderaktion Krakau. Die Verhaftung der Krakauer Wissenschaftler am 6. November 1939“, Hamburger Edition, Hamburg 1997, 58 DM
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