„Dem anderen den Willen aufzwingen“

Beim Kick- und Thaiboxen ist nahezu alles erlaubt, allein die Ehre zählt  ■ Von Stefan Huhn

Die letzte Runde hat Reza nur noch torkelnd an den Ringseilen überstanden. Ganze zwei Minuten lang hat Hussain auf ihn eingeprügelt – mit Fäusten, Füßen und Knien. Rezas linkes Auge ist geschwollen, der Körper ist voller Prellungen. Vom Kopf bis zum Schienbein mußte Reza brutale Treffer einstecken, denn beim Thaiboxen ist nahezu alles erlaubt. Aber auch alles ist Ehrensache: Obwohl Reza nur knapp am k.o. vorbeigeschrammt ist, umfaßt sein Gegner ihn nach der Siegerehrung an den Beinen und trägt ihn unter dem Applaus der Zuschauer ehrenhalber einmal durch den Ring.

Thai- und Kickboxveranstaltungen, wie dieses Anfängerturnier in Elmenhorst, erschaffen eine eigene Welt: Egal, ob Anfänger oder Titelträger, nichts ist wichtiger, als die eigene Ehre zu verteidigen. Ralf Stege, ehemaliger Europameister im Thaiboxen, fürchtete vor Kämpfen in erster Linie um seinen Ruf: „Ich war schrecklich nervös, weil ich Angst vor einer blamablen Niederlage hatte“, erzählt der Meister heute. „Ich wollte immer, daß die Leute mir hinterher sagen: ,Mensch Ralf, du hast alles gegeben, das haben wir gesehen.'“

Da könnte man fast meinen, Thai- und Kickboxen sei etwas für ängstliche Gemüter. Reza und Hussain betreiben ihren Sport, weil er ihnen die nötige Nähe zur vermeintlichen Wirklichkeit vermittelt. „Wenn–s auf der Straße mal drauf ankommt“, so meint Reza, dann sei er bestens gerüstet. Beide dreschen sich gegenseitig auf die Nase, rammen sich das Knie in den Bauch und treten wild um sich. So sind sie für alle Fährnisse in der S-Bahn, in der Disco oder beim Gassigehen gewappnet. Der Unterschied zwischen dem Sport und einer wirklichen Schlägerei ist dabei – zumindest für Laien – schwer auszumachen.

Für die Aktivisten der Szene ist das Geschehen im Ring dagegen ein fairer Zweikampf. Das Gesicht von Thomas ist noch verquollen vom gerade überstandenen Kampf. Seine Bewegungen wirken holperig, ein Fuß ist angeschwollen. Von der Geschmeidigkeit im Ring ist nichts geblieben. Dem Gegner schüttelt Thomas dennoch kraftvoll die Hand: „War doch alles nur Show im Ring, und die ist jetzt eben vorbei.“

Für Ralf Stege sind die Schläge und Tritte im Ring gar eine psychische Auseinandersetzung: „Beim Thaiboxen fügt man sich Schmerzen zu, um dem anderen seinen eigenen Willen aufzuzwingen. Wenn die Techniken des anderen stärker sind, dann geht der seinen Weg weiter , und ich verliere.“

Mit technischer Finesse kommt keiner zum Erfolg im Ring, der hier Dojo heißt. Entscheidend ist, wer aggressiver vorwärtsgeht, wer mit geschwollenen Augen noch sehen kann oder einfach weniger Schmerzen spürt. So ist die Stimmung im Ring entsprechend explosiv. In der Umkleidekabine kann man das Adrenalin förmlich riechen.

Das Publikum sucht die geladene Atmosphäre nicht aus Gründen der Ehre. „Ein bißchen aggressiv sind wir doch alle hier“, meint ein Zuschauer, „sich so was anzugucken, ist doch ein guter Weg, um das loszuwerden.“Für diese Art des Sich-Abreagierens scheint Kickboxen die ideale Sportart, selbst für manchen Sportler. Etwa für den Kahlköpfigen, der jetzt den Ring betritt. Keine zwei Minuten braucht er, und sein Gegner ist k.o. Als der Schiedsrichter den Kampf schon abgebrochen hat, tritt der Gewinner seinem Gegner noch zweimal brutal vors Knie.

Thai- und Kickboxen haben eben kein gutes Image. Sie stehen in dem Ruf, anziehend auf Kreise zu wirken, die alles andere im Sinn haben als Selbstverteidigung. Insider schätzen, daß Kick- und Thaiboxen von Neonazis als bevorzugtes Training für Gewaltakte genutzt wird. Und seit entsprechenden Berichten im Spiegel TV wird der Szene nachgesagt, Haussportart für das Reeperbahnmilieu zu sein. Wolfgang Gier von der Sportschule Kwan Yu ist einer der Ziehväter des Kickboxens in Hamburg. Die Fernsehbeiträge bringen ihn immer noch auf die Palme: „Die Leute, die in der Reeperbahn-Szene rumlaufen, haben doch gar keine Lust, sich mit Training abzuquälen“, meint er.

Daß sich trotzdem Personen zu dem Sport hingezogen fühlen, die nicht für den Erfolg im Ring trainieren, gibt jeder zu. Doch das sei wie mit dem Kfz-Schlosser, der sein Know-How zum Autoknacken nutzen würde. Da könne man ja auch nicht das Handwerk verantwortlich machen. Die Verantwortung dafür, was seine Schützlinge mit dem Gelernten anfangen, lehnt der Kickboxlehrer ab. Denn auch er kennt natürlich schwarze Kickbox-Schafe: „Hier sind Leute gekommen, die waren im Dojo zu jedermann nett und höflich, und auf der Straße wurden sie zu Stinktieren.“