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Als Ideen-Steinbruch ein Gewinn

■ In Hans Jürgen Heinrichs „Wilde Künstler – über Primitivismus, art brut und die Trugbilder der Identität“ werden Begriffe mehr verwirrt als geklärt

„Ob Folklore oder Stammeskunst – die Kultur der Gegenwart ist mannigfaltiger, als sie in Europas zeitgenösischen Museen zur Schau gestellt wird“, sagt Catherine David, die Leiterin der nächsten dokumenta. Sieht man davon ab, daß diese Erkenntnis der Gleichzeitigkeit vieler historisch differenter Erscheinungsformen nicht so besonders neu ist, tut sich damit für die Definition von Kunst im engeren und immer europäischen Sinne eine verwirrende Vielfalt auf.

In diesem „Mehr“ schwimmt auch das neue Buch von Hans Jürgen Heinrichs: Wilde Künstler – über Primitivismus, art brut und die Trugbilder der Identität, das kürzlich bei der Europäischen Verlagsanstalt in Hamburg erschienen ist. Der 50jährige Kulturanthropologe und Romanschriftsteller setzt in diesem Buch seine Erkundungen der ständig wechselnden Zeichensysteme der Gegenwart fort und untersucht die Wechselwirkungen von europäischer und außereuropäischer Kunst, von Magie und Ästhetik, von Künstler-Ich und überpersönlich-sakralem Werk seit der Jahrhundertwende.

Dabei bezieht er sich auf sonst meist stark unterschiedene Personen und Aspekte: den expressiven Maler Rainer Fetting und den so sehr an der Ästhetik des Verschwindens arbeitenden Jochen Gerz, die Entdeckung der „Negerplastik“ und den schweizerischen Maler, Komponisten, Schriftsteller und Weltentwerfer Adolf Wölfli, den die klassische Kunstgeschichte unter „Kunst der Geisteskranken“ führt.

Dazu verwendet der Autor eine gelegentlich ausfransende Argumentation, die in interdisziplinären, an modernen französischen Philosophen orientierten Texten geradezu die Regel geworden ist. Aber angesichts der zitierten Forderung von Michel Serres nach einer „großen Philosophie der Mischungen und Kreuzungen, der Identität als Summe oder Kombination von Andersartigem“ scheint kaum etwas anderes mehr zu funktionieren.

Mögliche Kritik wird bekennerhaft zurückgewiesen: „Die dogmatischen Vertreter des Rationalen und des Irrationalen tragen jeweils nur Bekenntnisse vor sich her, statt sich auf die Prozesse einzulassen, die jedes Leben bestimmen und die Kunst und Wissenschaft zu offenen Systemen machen“ (Hans Jürgen Heinrichs).

Zweifellos ist es interessant, schon auf den ersten 14 Seiten über mehr als 16 Künstler en passant etwas zu erfahren. Auch kann der vorliegende Text mit Gewinn als Ideen-Steinbruch gelesen werden. Doch im Detail fehlt mitunter die Schärfe der Definition und die Richtung des Diskurses. Warum leistet es sich ein Autor, der sich als Ethnologe bezeichnet, von „der Rolle des Menschen als eines interkulturellen Wesens“ zu sprechen und so völlig sinnlos Wesenheiten zu postulieren, wo es um Eigenschaften des Austausches geht? So etwas locker Dahingesagtes besetzt den Kultur-Begriff vorsätzlich widersprüchlich, erzeugt also noch zusätzliche Verwirrung da, wo aktive Klärung angesagt wäre.

Doch in der Darstellung der Wechselbeziehungen im verwegen verworrenen Begriffsdschungel der modernen Kunst und des aktuellen Versuchs, den Künsten der Welt mit ethnologischen Kriterien beizukommen, leistet der vorliegende Text dann doch einen ersten Einstieg. Mehr ist es leider nicht geworden.

Hajo Schiff

Hans Jürgen Heinrichs: „Wilde Künstler – über Primitivismus, art brut und die Trugbilder der Identität“, Originalausgabe, 138 Seiten, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1995, 24 Mark

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