: Ein Aktenzeichen statt Hilfe in Not
■ 74jährige Frau wurde brutal von ihrem psychisch kranken Untermieter zusammengeschlagen / Tochter des Opfers hatten zuvor die Behörden vergeblich gebeten, sich um den Mann zu kümmern
Langsam erwacht Hilda W. auf der Intensivstation des St.-Jürgen-Krankenhauses aus ihrem Koma. Die Hirnschwellung klingt allmählich ab. Doch ob sie sich je an den zweiten Weihnachtsfeiertag erinnern wird, ist ungewiß. In den frühen Morgenstunden dieses Tages dringt ihr Untermieter, der 38jährige Thorsten R., in das Schlafzimmer von Hilda W. ein. Mit einer Bratpfanne schlägt er auf die 74jährige Frau ein. Lebensgefährlich verletzt wird Hilda W. Stunden später ins Krankenhaus eingeliefert und sofort operiert. Ein Unglück, das möglicherweise hätte verhindert werden können, wenn die Ärzte im Krankenhaus-Ost und der Sozialpsychiatrische Dienst früher reagiert und den psychisch kranken Mann besser betreut hätten. Das ergibt sich jedenfalls aus den näheren Umständen des Falles, die erst jetzt bekanntgeworden sind.
Schon neun Tage vor der Tat lebt Hilda W. in Angst vor ihrem Untermieter. Thorsten R. wohnt in einer abgeschlossenen Dachwohnung in ihrem Haus. Er hat keinen eigenen Eingang. Hilda W. ahnt nicht, daß der Mann psychisch krank ist und bis zum März 1997 entmündigt war. Sie ist allerdings stark beunruhigt, als er kurz vor Weihnachten mit Selbstmord droht, randaliert und sie beschimpft. Die Polizei bringt den Mann in die psychiatrische Abteilung des Krankenhauses-Ost. „Keine Eigen- oder Fremdgefährdung“, lautet die Diagnose der Ärzte. Am nächsten Tag wird Thorsten R. entlassen. Hilda W. beobachtet, wie sich sein Zustand verschlechtert. Er redet die ganze Nacht über bei geöffneter Tür, räumt sämtliche Möbel ins Badezimmer und droht wieder mit Selbstmord.
Am 22. Dezember ruft die Tochter von Hilda W. den sozialpsychiatrischen Dienst in der Helgoländer Straße an. Der sozialpsychiatrische Dienst ist für solche „akuten Krisensituationen“, wie es im Behördenjargon heißt, zuständig. Die Mitarbeiter des Dienstes rücken beispielsweise aus, um potentielle Selbstmörder von ihrem Vorhaben abzubringen.
Auch Thorsten R. ist beim sozialpsychiatrischen Dienst seit Jahren bekannt. Ein Sozialarbeiter versucht, die Tochter zu beruhigen: „Machen Sie sich keine Sorgen. Herr R. ist verbal zwar manchmal etwas rüde. Aber ihre Mutter braucht keine Angst zu haben.“
„Der hat mir versprochen, Herrn R. noch am gleichen Tag zu besuchen“, sagt Bruni A., die Tochter des Opfers. Eine Darstellung, die Olaf Joachim, Sprecher des Sozial-ressorts, widerspricht. Der Sozialarbeiter habe sich auf die Diagnose des Zentralkrankenhauses verlassen und lediglich eine „Aktennotiz geschrieben – für den Fall, daß etwas passieren sollte“. Im nachhinein „ein folgenschwerer Irrtum“, räumt Joachim ein. Für eine Zwangseinweisung habe es aufgrund der Diagnose des Krankenhauses aber „keine rechtliche Handhabe“gegeben. Warum der Sozialarbeiter den Mann nicht besucht hat, um ihn in einem Gespräch eventuell zu beruhigen, weiß Joachim nicht. „Fragen Sie vor Ort nach.“
Doch vor Ort gibt man sich wortkarg. Es habe „Absprachen mit der Tochter“gegeben, bestätigt Dr. Peter Haffmeyer, Leiter des sozial-psychiatrischen Dienstes in der Helgoländer Straße. Inwieweit diese Absprachen eingehalten wurden, vermag er nicht zu sagen. „Das weiß ich nicht. Es ist sowieso egal, wer wann was wo gesagt hat.“Das sieht Bruni A. anders: „Wir haben alles versucht, und keiner hat uns geholfen.“ kes
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