Auf Birken und Brechen

■ Traurig, aber auch schön: „Mutter und Sohn“ – ein Sokurov-Film im Kino Balazs

Die russische Mutter ist anders als herkömmliche Mütter. Sie ist nicht einfach nur die gute Seele der Familie, sondern überhaupt der Urgrund der russischen Seele. Sie und ihr Sohn sind in russischen Märchen ein häufig aufgegriffenes Motiv. Meist stirbt sie dort vor Sehnsucht nach ihrem in der Welt Heldentaten vollbringenden Kind. Aleksandr Sokurov hat dieses Motiv in seinem neuen Film „Mutter und Sohn“, der zur documenta X eingeladen war, umgedreht.

Der Sohn (Aleksej Anaschninov) ist daheim und pflegt seine sterbenskranke Mutter (Gudrun Geyer). Sie leben in einem heruntergekommenen, fensterlosen Haus, in dem nur ein Bett steht und ein Feuer brennt. Beide wissen, daß die Mutter nicht mehr lange leben wird, doch kaum einer verliert ein Wort darüber. Erst kurz bevor sie stirbt, sagt die Mutter, daß der Sohn ihr leid tue, nicht, weil er allein zurückbleiben wird, sondern weil er irgendwann auch einmal ihr Elend durchmachen muß: den langen Abschied vom Leben.

Die Mutter kann nicht mehr laufen. Dennoch will sie spazierengehen. Der Sohn trägt sie zur Bank im Wald, zur Wiese am Wegrand, in die Dünen und unter die Birke. „Es ist ein gutes Leben hier, aber irgendwie hat man's hier immer schwer“, sagt die Mutter. Diese unerträgliche Schwere des Seins stellt Sokurov in ebenso schweren Bildern dar. Dunkle Wolken zerreißen den Himmel, die Sonne strahlt sepiabraun, in langen Einstellungen inszeniert Sokurov eine karge, schöne Landschaft nach dem Vorbild von Caspar David Friedrich, und dauernd bläst ein böiger Wind. Nur zweimal erscheint ein Hauch von Zivilisation, als eine Dampflokomotive durch die Landschaft fährt, der der Sohn sehnsüchtig nachschaut.

Ein großes Schweigen bestimmt den Film: Sprachlosigkeit angesichts der Einsamkeit zwischen Leben und Tod. Was die beiden nicht verzweifeln läßt, ist ihre Liebe. Sokurov, dessen seit 1978 entstandene Filme erst ab 1986 in der Sowjetunion gezeigt wurden, hat seinen neuen Film geradezu malerisch komponiert. Mit Weitwinkel- Objektiv und Speziallinsen hat er beinahe jedes einzelne Bild bearbeitet, verzerrt oder mit Farbe gemalt.

Herausgekommen ist ein besonders eingefärbter Farbfilm, in dem die drückende Einsamkeit zwar traurig, aber auch schön ist: romantisch-melancholisch eben. Hans-Christoph Stephan

Kino Balazs, Karl-Liebknecht- Straße 9, Mitte, heute, 26.1. und 27.1., jeweils 20 Uhr, 23.1., 19 Uhr, weitere Termine siehe cinema-taz oder telefonisch erfragen unter 2425764; der Film läuft darüber hinaus auch im Babylon, Rosa-Luxemburg-Straße 30, Mitte, am 26.1., 19 Uhr, und am 28.1., 21 Uhr.