Press-Schlag: Den Hotspurs zu bunt
■ Merkwürdig finden die Fußballprofis in Tottenham ihren Coach Christian Gross
Christian Gross redet vom Zirkus und meint nicht seinen Arbeitsplatz. Er wolle mit seiner Mannschaft den Cirque du Soleil in der Londoner Royal Albert Hall besuchen, sagt der Schweizer Trainer des englischen Premier-League-Klubs Tottenham Hotspur. „Es ist gut für die Harmonie, wenn wir mal alle zusammen weggehen.“ Doch wenig klappt bei Tottenham, nicht einmal ein gemeinsamer Ausflug. „Es ist derzeit schwierig, Tickets zu bekommen“, sagt Gross. Ein Blick ins Programm des Zirkus mag ihn trösten: Muskelmänner, Artisten, Clowns – die Show hat er täglich auf dem Trainingsplatz.
Seit zweieinhalb Monaten ist Gross (43) beauftragt, den Nordlondoner Traditionsverein vor dem Abstieg zu bewahren; bislang war seine Mission eher komisch als erfolgreich. „Tottenhams Spieler beschweren sich darüber, daß unter Gross in der Umkleidekabine Badeschlappenpflicht besteht“, berichtete beispielsweise die Zeitung Daily Telegraph. Ausländische Trainer sind in England noch immer Raritäten, und wie so vieles Neue werden sie mit einer Mischung aus Arroganz und Ablehnung empfangen. Christian Gross, der an internationalen Referenzen nur 29 Bundesligaeinsätze für den VfL Bochum aus den Jahren 80 bis 82 sowie als Trainer zwei Schweizer Meisterschaften mit Grasshoppers Zürich vorweisen kann, bekommt das Mißtrauen mehr als jeder andere zu spüren. Auf dem Übungsplatz der Hotspurs in Chigwell im Londoner Nordosten wird es den Fußballern zu bunt. Gelbe, rote, grüne, blaue Leibchen verteilt Gross und läßt vier Teams um einen Ball kämpfen. „Den Blick für den Mitspieler schulen“ will Gross. Die englischen Profis blicken sich verständnislos an. „So etwas hat es hier doch noch nie gegeben“, erklärt Tottenhams Schweizer Verteidiger, Ramon Vega. „Training war hier bisher immer nur Spaß.“ Zweimal am Tag wie unter Gross hätten die Hotspurs noch nie trainiert.
Jürgen Klinsmann wurde von Gross nicht nur zum Toreschießen nach London gelotst. Der Deutsche hat dank seines legendären Gastspiels in der Saison 94/95 in Tottenham bei den englischen Spielern die Autorität, die Gross fehlt. Nun versucht der Stürmer, die Mannschaft mit dem Trainer und dessen Methoden anzufreunden.
In Zürich war Gross berühmt für solche Ideen. Einmal führte er die Grasshoppers auf eine mittelalterliche Festung, um ihnen zu verdeutlichen, wie sie ihr Tor zu verteidigen hätten. „Visualisieren von Zielen“ nennt er das. Viele Engländer halten es für billige Gags; in ihren Ohren klingt Gross albern, wenn er smart sein will, und ruppig, wenn er ernst ist. So entstand das schiefe Bild von einem konfusen Drillmeister.
Auf deutsch erzählt Christian Gross eine sieben Jahre alte Geschichte, die zeigt, wie er wirklich mit Spielern umgeht: Das erste Training nach zwei Wochen Winterpause stand an, und Christian Gross, der Trainer des Ostschweizer Amateurvereins FC Wil, fuhr zur Sparkasse, um dort seinen Mittelstürmer, Rudi Hasler, abzuholen. Hasler, der stellvertretende Filialleiter, war nicht da. Er hatte den Tresor leergeräumt und war nach Asien geflohen. Gross flog nach Thailand. „Ich wollte ihn finden und ihm helfen, sein Leben wieder in Ordnung zu bringen.“ Zwei Wochen reiste er mit einem Motorrad durch das Land, letztlich vergeblich. Aber Christian Gross glaubt, daß es seine Pflicht als Trainer war, alles zu versuchen. Ronald Reng, London
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen