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Oral history im Patois-Dialekt

■ „Reggae – the Rough Guide“ ist der definitive Reader zum Thema

Wer ein Buch über Reggae unbescheiden „The definitive guide to jamaican music“ nennt, hat entweder einem großmäuligen Werbetexter vertraut, oder er hält tatsächlich alle Fäden in der Hand. Steve Barrow hat keinen Grund zum Understatement: Der Dub- Philologe und Plattensammler- am-Rande-des-Nervenzusammenbruchs erwarb sich als Verfasser fachkundiger Linernotes bei den Reissue-Labels Trojan und Blood and Fire den Ruf, ein „wandelndes Lexikon“ zu sein. Zusammen mit NME-Autor Peter Dalton bürgt er beim Reggae-Guide für den gewissen päpstlichen Touch.

Auf knapp 400 Seiten geht die Reise „from ska through roots to ragga“, und das in extended version. Nicht nur auf kanonisierte Highlights beschränkt, werden auch Seitenarme des Hauptflusses zurückverfolgt. Daß beispielsweise für die Entstehung des Ska der Import amerikanischen Rhythm 'n' Blues maßgeblich war, ist Liebhabern meist vertraut. Wer aber kennt die Geschichte der jamaikanischen Folk-Tradition? Wo hat man je die persönlichen Erinnerungen King Edwards nachlesen können, der 1954 das erste Soundsystem Jamaikas begründete? Und wo wurde die Bedeutung Curtis Mayfields für die Entstehung des Rock-Steady eingehender beschrieben?

Theoretisierende Reflexionen unternehmen Barrow und Dalton selten, vielmehr bemühen sie sich, die verschiedenen Einflüsse der jamaikanischen Populärmusik in ihrer Gesamheit zu bannen. Sie widmen sich den Entwicklungen des Reggae in England, Afrika und den USA, liefern einen Abriß der jamaikanischen Geschichte und ein lustiges Wörterbuch zum jamaikanischen Jive-Talk. Das beeindruckt Freunde des Zettelkastens und wahrt gleichzeitig, durch mild-ironischen Schreibstil, sachliche Distanz – eine Distanz freilich, von der man ahnt, daß sie nur die Tränen kaschiert, welche die Autoren beim Hören ihrer Lieblingsmusik vergossen. Der didaktische Stil ist stark vom Muster des Reiseführers geprägt, dem eigentlichen publizistischen Feld des Rough- Guides-Verlags. Statt langer Kapitel, die zum Durchlesen in einem Stück zwingen, ist das Buch in leicht überschaubare Blöcke unterteilt, denen nur unverständlicherweise kein Inhaltsverzeichnis vorsteht. Lediglich ein Namensindex erleichtert das Nachschlagen.

Zur discographischen Detailarbeit (rund 1.000 Kommentare) gesellen sich Interviews mit Musikern und Produzenten, die Barrow auf Jamaika führte: oral history im jamaikanischen Patois-Dialekt und lebendiges Gegengewicht zur überwiegend sachlichen Analyse. Die Gespräche, die auch per Kamera aufgezeichnet wurden, kommen den „Reggae Archive Projects“ zugute. Dieses von Chris Blackwell, dem Gründer des kommerziell erfolgreichsten Reggae- Labels Island initiierte Archiv stellte Barrow und Dalton Geld und die institutionelle Grundlage für ihr faktenreiches Nachschlagewerk bereit. Nils Michaelis

Steve Barrow und Peter Dalton: „Reggae – The Rough Guide“. Rough Guides, London, 50 DM

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