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Kofferträger im Totenhaus

Alle sind gleich, der Verrat marschiert: Zur Premiere von Johann Kresniks Stück „Hotel Lux“ am Donnerstag abend in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz  ■ Von Nikolaus Merck

Das Theater ist kein Ort der Erkenntnis. Die Wahrheit, so es sie gäbe, weiß es nicht. Mit seinen Erzählungen vom einzelnen Menschenschicksal verwandelt das Theater die große Geschichte in viele kleine, deshalb gehört die Bühne den Toten, deren Namen sie aufruft. Nur die Toten kommen auf dem Theater zu ihrem Recht, das die Geschichte der Sieger ihnen verwehrt.

Der Titel von Johann Kresniks neuem Choreographischen Theater nennt Namen und Adresse eines Totenhauses: Hotel Lux, Moskau, Ulica Twerskaja 10. Jener Ort, an dem kommunistische Funktionäre aus Europa in den dreißiger Jahren Zuflucht fanden vor dem Faschismus in ihren Heimatländern. Und mitten hineingerieten in die nach der Ermordung des Leningrader Parteichefs Kirow 1934 in Gang gesetzte große Tschistka, eine jener zyklisch wiederkehrenden Säuberungen der kommunistischen Parteien, in der alle eingebildeten oder wirklichen Gegner der gerade aktuellen „Linie“ aus der Partei ausgeschlossen und umgebracht oder in die Arbeitslager eingeliefert wurden.

Weil Kresniks Theater keine Namen kennt, sind sie alle gleich. Als Kofferträger. Die großen kommunistischen Tiere wie Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck, Georgi Dimitroff, „Ercoli“ Togliatti und all die namenlosen kleinen. Freude kommt auf bei ihrer Ankunft in der Vorhalle der Volksbühne, die Kameras auf zwei große Bildschirme in den Zuschauerraum übertragen. Nur eine Frau ist schon alleine vorausgegangen ins große Foyer auf der Bühne, ein leerer Ort, umgeben von einem Halbrund Türen. Ungläubig dreht sie sich im Kreis vor den ins Überlebensgroße projizierten, zerkratzten Fotos der zukünftigen Toten.

Dem fröhlichen Tandaradei der Zimmerverteilung – ein Bürokrat löscht brennende Streichhölzer an den Zungen der Frohgemuten – folgen heitere Bilder von tanzenden Paaren; die verbürgte Rattenplage im Lux verschafft Kresnik die Gelegenheit, seiner Kompanie viele kleine langschwänzige Spielgefährten beizugesellen. Die Veränderung, die mit den vermeintlich dem Tod Entronnenen vorgeht, faßt der Choreograph ins Bild einer Karawane, die von Zimmer zu Zimmer zieht, als Reisende zuerst, als blindlings Gläubige mit verbundenen Augen, zuletzt als Papiere schwingende Bürokraten mit verkniffenen Gesichtern. Unter dem Druck einer namen- und gesichtslosen Bedrohung löst sich das Kollektiv auf in einzelne. Ein nacktes Paar nimmt Abschied; bevor die Tür hinter dem fliehenden Mann zuklappt, fällt ein Schuß. Die zurückgebliebene Witwe klettert in eisenstachelgespickten Schuhen über die Schreibtische, unter denen sich die Genossen verbergen und auf ihre untadeligen Kaderakten deuten. Der Verrat marschiert. Von oben schaut eine ruhelos umherstreichende Überwachungskamera in die Zimmerzellen, in denen die Schreibmaschinen klappern, als letzte verbliebene, nur für die Abfassung von Spitzelberichten taugliche Waffe.

Mit der zunehmenden Verstörung kommen die Phantasmagorien. Eine Frau säugt einen nackten Untoten gewaltsam an ihren mit Hakenkreuzen bemalten Brüsten. Eine andere, gerade noch sang sie ein Lied vom neuen Menschen, schneidet sich Pulsadern und Lippen auf und stopft sich den blutigen Mund mit Kartoffeln.

Aber Kresniks Theater ist hohl. So hohl wie die riesige Stalinbüste, die anfangs vom Rang durch den Saal schwebt und auf der Bühne zerbricht. Denn der Choreograph kennt keine Parteiungen mehr, das anonyme Verhängnis kann jeden treffen – behaupten seine Bilder. Von der Parteiführung der KPD etwa, die – man kann es im Programmheft zwischen den Zeilen erfahren: um ihr eigenes Leben zu retten – nicht zögerte, jeden und jede der sowjetischen Geheimpolizei ans Messer zu liefern, ist auf der Bühne keine Rede und kein Bild. Nur einmal nimmt die vom Schnürboden herabbaumelnde Handkamera eine Notiz von Wilhelm Pieck ins Bild: „90 Prozent der Emigranten sind Spitzel und Provokateure.“

Indem Kresnik einen oppositionellen Trotzkisten, der das Bild seines Säulenheiligen unter dem obligatorischen Stalinplakat an der Tür versteckt, von seinen Zimmernachbarn entlarven läßt, ignoriert er, daß es gar nicht der Opposition gegen Stalins Politik bedurfte, um in die Räder der Vernichtungsmaschinerie zu geraten. Was den Terror so unbegreiflich machte für die gläubigen Kommunisten, war, daß er zum Prinzip der Politik geworden, noch den ergebensten Anhänger Stalins treffen konnte. Wenn es aber im Lux tatsächlich Feinde des Regimes gab, war dann die Wachsamkeit nicht berechtigt? Und der Terror vielleicht doch nur eine bedauernswerte Übertreibung?

Dieser Logik folgt auch der Schluß des Abends. Die an der Rampe aufgereihten Genossen werden erschossen. Nur drei überleben. Daß an den Händen von jenen, deren weiterer Weg in die oberen Etagen der von Stalins Gnaden entstandenen Volksdemokratien und der kommunistischen Parteien des Westens führen wird, das Blut der von ihnen Verratenen klebt, übergeht Kresnik souverän. Denn hinter ihnen sitzt auf einem Tisch eine Frau in der Uniform der Roten Armee und kaut sich mühsam durch Berge von Royal Macs. Vom Terror Stalins im Panthersprung vorwärts in den Terror des amerikanischen Kulturimperialismus?

Manchmal gelingt es dem Theater, den Toten zu ihrem Recht zu verhelfen. Manchmal stellt es sich dümmer, als es ist, dann betreibt es das Geschäft der Sieger der Geschichte und plädiert über den Gräbern für die falsche Versöhnung von Opfern und Tätern.

„Hotel Lux“, Inszenierung und Choreographie: Johann Kresnik, Bühne und Kostüme: Penelope Wehrli; weitere Aufführungen: Heute, am 30. Januar und am 5. Februar, jeweils 19.30 Uhr.

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