: Dunkle Wolken über Schloß Donnerstrunken
■ Musik, Moral und Massaker: Leonard Bernsteins Operette „Candide“auf der Bühne der Hamburger Musikhochschule reitet giftige Attacken auf den Sinn des Lebens
Leben wir in der besten aller möglichen Welten? Eine Antwort darauf gibt die Operette Candide, die am Freitag unter der Regie von Daniel Rötting ihre Premiere an der Hamburger Musikhochschule feierte. Das Libretto auf der Grundlage einer Voltaire-Satire, Musik von Leonard Bernstein - und doch wurde Candide nach der Broadway-Uraufführung 1956 von Kritikern als „langweilig“abgekanzelt. Nachdem der englische Dramatiker Hugh Wheeler einen neuen Text geschrieben und Bernstein die Musik mehrmals überarbeitet hat, entpuppt sich das Stück nunmehr als giftige Attacke auf den Sinn des Lebens.
Im Zentrum steht Candide (Stephan Zelck), der naive Adoptivsohn eines westfälischen Barons. Zusammen mit den Fürstenkindern Cunegonde (Franziska Rötting) und Maximilian (Martin Wille) lebt er zusammen auf Schloß Donnerstrunken, wo ihr Hauslehrer Dr. Panglos (Fernand Delosch) von der gottgewollten Zweckmäßigkeit der Welt schwafelt. Als Candide und Cunegonde bei einem „körperlichen Experiment“von Maximilian erwischt werden bricht das Kartenhaus der Anständigen zusammen: Candide wird verstoßen, Cunegonde wird in den einbrechenden Kriegswirren verschleppt. Auf der Suche nach der Verschollenen stößt Candide auf Terror, Krankheit und Prostitution: „Wenn dies die schönste aller Welten ist: Wie mögen dann erst die anderen sein?“
Daniel Röttings hat in seiner Diplominszenierung den ständigen Schauplatzwechsel (Bühnenbild: Nanette Zimmermann) schlüssig in Szene gesetzt: Kreisende blaue Lichtschlangen, ein schwankender Bewegungschor und schon ist Candide auf stürmischer See. Die Gesangstexte sind verständlich, was sich bei der ironischen Hintergründigkeit des bespickten Candide-Librettos bezahlt macht. Schauspielerisch und stimmlich beeindruckt vor allem Franziska Rötting, die Cunegonde als blondes Gift verkörpert. Und wenn die alte Lady Astrid von Feder über eine fehlende linke Pobacke klagt und als Papsttochter einen heißblütigen Tanz hinlegt, fallen einem die Augen aus. Zelck alias Candides erwärmt mit seiner lyrischen Tenorstimme.
Das Albert-Schweizer Jugendorchester unter der Leitung von Manfred Richter wurde nach anfänglichen Wacklern der rhythmisch vertrackten Musik Bernsteins - einer schäumenden Mischung von Walzer und Tango mit Offenbach-Anklängen - voll und ganz gerecht. In der besten aller Welten leben wir zwar nicht - aber eine gute Aufführung läßt sich allemal erleben. Andreas Kunz
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