■ Vorschlag: Shelley Hirschs Hommage an Jerry Hunt im Hebbel Theater
Der texanische Musiker Jerry Hunt hat nach seinem wohldurchdachten und -dokumentierten Selbstmord 1993 andere KünstlerInnen autorisiert, seine Arbeit fortzuführen. Die amerikanische Experimental-Vokalistin Shelley Hirsch ist eine von ihnen. Ihr Stück „For Jerry“ im Hebbel Theater ist eine wilde Hommage an einen Mann, der in den schillerndsten Farben beschrieben wird: Schamane, Exzentriker, Pionier, Meister. Für Shelley Hirsch wiederum ist keine liebevolle Übertreibung von Tönen, Lauten und Geräuschen zu banal, um sie nicht auszuprobieren. Sie ist die ideale Vestalin eines Künstlers, dem der Ruf des Magiers anhaftet. „For Jerry“ ist demnach mehr Messe als Erzählung, mehr Ritual als Retrospektive.
Die Handlung findet auf der üppig ausgestatteten Bühne statt. Wie Leuchtkäfer hängen unzählige kleine Monitore von der Decke, daneben Kuhköpfe, Vogelbauer, Klobürsten, Engelsflügel. Mittendrin steht ein altarähnliches Bett, auf dem die Anbetung des Meisters zelebriert wird. Ein Rokoko an Bühnendekoration, das an Waco in Texas erinnern soll. Dort hat Jerry Hunt gelebt und gewirkt. Seine Musik und Videos werden der Performance als ständiges Geräusch-Rodeo unterlegt, stückweise erfährt man dabei Legenden: Als Jugendlicher gründete er seine eigene Rosenkreuzerordensgemeinde; als Pianist spielte er in Striplokalen; als Atheist machte er okkulte Systeme zur Grundlage seiner Kompositionen; als Musiker erforschte er elektronische Medien und Magie.
Shelley Hirsch versucht nun, vor diesem Hintergrund ihre Verehrung musikalisch zu improvisieren. Sie singt Hunts Leidenschaftlichkeit und Fanatismus; sie singt seinen Lungenkrebs und seine Homosexualität; sie singt seine Reise in die Dinge und seinen Tod. Mit unbändigem Bewegungsdrang versucht sie, außer sich zu geraten, ohne die Kontrolle zu verlieren. Jedoch es gelingt nur teilweise. Denn Hirsch tritt mit ihrer mehroktavigen Stimmgewalt nicht in Kommunikation, sondern in Konkurrenz mit dem Subjekt ihrer Beschwörung: Die Ausdruckskraft in Leben und Werk Jerry Hunts und ihre eigene ergänzen sich nicht. Eher stehen sich zwei Persönlichkeiten gegenüber, deren Intensität sich neutralisiert. Wem soll die Aufmerksamkeit gelten? Waltraud Schwab
Heute um 20 Uhr, Hebbel Theater, Stresemannstraße 29
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