: Im Exil der Rechtschaffenen
Wenn Tibet erwacht: „Et soudain, des nuits d'éveil“, die neueste Produktion von Ariane Mnouchkine, Hélène Cixous und dem ThéÛtre du Soleil in Paris ■ Von Nikolaus Müller-Schöll
Für die Kritiker der neuesten Produktion des ThéÛtre du Soleil war es keine Frage. Nach ihrem Hungerstreik für Bosnien in Avignon, ihrer Einladung der von Abschiebung bedrohten „Sans Papiers de Saint Bernard“ unters Dach ihrer Theaterfabrik, der Cartoucherie, und ihrem Engagement gegen das neue Einwanderungsgesetz hat Ariane Mnouchkine, die letzte große Regisseurin des politischen Theaters der 70er Jahre, nun Tibet entdeckt: Das Work in Progress hatte gerade begonnen, da war es von vorurteilenden deutschen Rezensenten bereits im Schnellgericht als harmloser Agitprop und allzu engagiertes Spiel abgefertigt, und selbst die französischen Journalisten, die mit den Arbeitsweisen des bereits legendären freien Theaters am Stadtrand von Paris vertrauter sind, äußerten zwei Wochen nach Spielbeginn Befremden: Das Stück, so die Theaterkritikerin von Le Monde, liefere den Gegnern der politischen Aktionen des Theaters ungewollt Munition. Sie hat wohl ihren Augen nicht getraut. Denn das ThéÛtre du Soleil führt in „Et soudain, des nuits d'éveil“ (wörtlich: Und plötzlich, die Nächte des Erwachens“), das Theater der Unterdrückten nicht auf, sondern vor.
Zunächst freilich scheint es, als sollten die Kritiker recht behalten: Das Stück, das im Verlauf der Proben in Zusammenarbeit mit der Psychoanalytikerin und Schriftstellerin Hélène Cixous entwickelt wurde, beginnt so rechtschaffen und verschachtelt wie die Politdramen eines Peter Weiss. Ein Sprecher des Theaters verkündet, daß sich im Theater etwas ereignet hat, und leitet damit den Rückblick ein. Eine tibetanische Volksoperntruppe hat soeben ihr Tanzspektaktel im ThéÛtre du Soleil beendet und nutzt den Anlaß, um das Publikum auf die Mission einer tibetanischen Delegation hinzuweisen, die in diesem Augenblick von der französischen Regierung empfangen werden soll; es wäre die erste offizielle Anerkennung der Exilregierung unter dem Dalai Lama. Doch die Mission scheitert: Die französische Regierung will die anstehende Lieferung von Kampfflugzeugen an China nicht gefährden.
335 Tibetaner bitten nun im Theater um Asyl. Das „Publikum“, repräsentiert durch eine Tibetologin, einen Pfarrer, einige solidarische Zuschauer und ein paar Provokateure, weigert sich, den Bus zur letzten Metro nach Paris zu nehmen. Schließlich gilt es nun, so ein belgischer Geschäftsmann zu seiner Familie am Telefon, sich als „Zeitgenosse der Tibetaner zu fühlen“, bei den Unterdrückten die Nacht zu verbringen.
An diesem Punkt aber müssen wohl auch die Kritiker gute Nacht gesagt oder ihr Notizbuch zugeschlagen haben. Und so ist ihnen eine geradezu klassische Peripetie entgangen: Das ThéÛtre du Soleil, sonst bei jedem Protest dabei, läßt die gute Sache an diesem Abend in der Vorhalle, wendet sich um, betrachtet sich und uns. Es zeigt den engagierten Kampf als Jahrmarkt der Eitelkeiten, Pfadfinderurlaub und Geisterbahn, als Spiel der Interessen: Die Tibetologin im Wickelkleid, Typ höhere Tochter, führt ihre vermutlich mühsam erworbenen Tibetanischkenntnisse vor, um den Dalai Lama zu fragen, ob die lange Gefängnishaft nicht irgendwie „beschwerlich“ gewesen sei.
Eine Frau von Ärzte ohne Grenzen kommt vom Flughafen aus Somalia, um im Theater ihren Jet-lag auszuschlafen, eine an Mnouchkine erinnernde Theaterdirektorin erklärt theatralisch, sie jedenfalls bleibe wach – und nun liegen sie alle da und werden um den Schlaf gebracht: von der Praktikantin, die zetert, daß sie ihre acht Stunden gearbeitet habe und nun nach Hause will; von einer Schauspielerin, die sich darüber beschwert, daß das Theater ihr ganzes Leben auffrißt, und den Theatermanager als „Chinesen“ beschimpft, vom Schnarchen der Kombattanten und vom Fall des Deckels der Gulaschkanone.
So entwickelt sich, was als engagiertes Theater begonnen hat, im Lauf des Abends zur theatralischen Revision des politischen Engagements auf der Bühne der Komödie, zur Nummernrevue über die Schlaflosigkeit der Gerechten von „Saint Bernard“, Avignon und anderswo. Draußen im Foyer wird das Publikum dazu ermuntert, sich über die Verhältnisse in Tibet zu informieren, werden tibetanische Fleischklöpse und -taschen serviert, drinnen aber, im Theater, ist das Thema nicht Tibet, sondern das billige Spektakel, das überall dort aufgeführt wird, wo man mit geschulter Stimme, in edel geknittertem Maßanzug oder Nerz irgendein Fähnlein der Unterdrückten hochhält.
Der Zuschauer, der guten Gewissens seinen Spaß haben wollte, findet sich spätestens dann in der Rolle des ertappten Voyeurs wieder, wenn ihm der „Dalai Lama“ für ein Interesse an den geschundenen Tibetanern dankt, bei dem es für ihn nichts zu gewinnen gebe – weshalb es ihn ja auch nicht hergeführt hat.
Begonnen hat die Arbeit mit einem Workshop zum Thema „Gastfreundschaft“ und dem Vorhaben, die Erfahrungen des Theaters mit den „Sans-Papiers“ auf die Bühne zu bringen. Irgendwann aber müssen sich Ariane Mnouchkine und ihre Truppe gefragt haben, ob nicht bei allem öffentlichen Engagement am Ende diejenigen auf der Strecke bleiben, für die man kämpft – oder zu kämpfen vorgibt. Im Stück erreichen die Tibetaner und ihre Gastgeber, daß die Regierung den Transport der Flugzeuge um einen Tag verschiebt. Man geht zur Tagesordnung über, die Flieger werden geliefert, und irgendwo im fernen Asien zünden sich zwei vergessene Tibetaner aus Protest an.
„Et soudain – des nuits d'éveil“ zeigt ein Theater, das aus dem enthusiasmierten Aberglauben der Einheit von Theater und Politik erwacht ist und sich nun mit Tanz, Grand Guignol, Slapstick, Spiel im Spiel und Einbeziehung der Zuschauer, kurz mit allen Mitteln der Kunst daran macht, die ideologischen Grundlagen zu zerstören, auf denen es bei dieser Produktion begonnen hat. Für das weitgehend neue Ensemble des ThéÛtre du Soleil könnte das ein guter Anfang sein.
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