Zufall im Takt

Mut zur Lücke: Kunst an den ehemaligen Grenzübergängen soll den Verlauf der Mauer markieren  ■ Von Hans-Christoph Stephan

Der Grenzverlauf durch das geteilte Berlin sollte 1994 mit einem Kupferband oder rot-blau gestreiftem Beton nachgezogen werden. Doch das Projekt „Markierung des Mauerverlaufs“ kam nicht zustande, weil es in Ost und West an Bürgerinteresse fehlte. Ohnehin scheint der antifaschistische Wall nur noch sich selbst zu schützen: vor dem optischen Vergessen. Außer der East-Side-Gallery erinnert kaum etwas an die Mauer.

Seit Ende Dezember blinken an der Oberbaumbrücke zwischen der Dämmerung und ein Uhr nachts zwei Leuchtkästen von Thorsten Goldberg, die das „Stein- Papier-Schere-Spiel“ darstellen. Goldberg ist einer der sieben Preisträger des Wettbewerbs „Übergänge“, den die Senatsbauverwaltung im März 1996 ausgeschrieben hatte. Nicht mehr der 43 Kilometer lange Mauerverlauf, sondern sieben der acht ehemaligen innerstädtischen Grenzübergänge sollten gekennzeichnet werden. Jetzt kam es auf die Lücken an: Orte also, die den Verlauf der Mauer an ihren offiziellen Quasi-Löchern auch beschreiben können.

Die zwei Glaskästen sind genauso groß wie die verschiedenen Stadtwappen an der 96 Jahre alten Brücke. Goldberg hat sie beidseitig der mittleren Schiffsdurchfahrt angebracht. Wenn man mit der U- Bahn die Brücke überquert, sieht man das Leuchtspiel nicht, dazu müßte man wie Jürgen Vogel in „Das Leben ist eine Baustelle“ hastig die Spree lang: Die Hände stehen sich gegenüber und wechseln die Stellung per Zufallsgenerator im Sechs-Sekunden-Takt. Für Goldberg symbolisieren sie die Trennung zwischen Menschen, die „versuchen, zu einer Entscheidung zu kommen“. Auch heute, wo von der Mauer keine Spur mehr ist, müssen Menschen aus Ost und West Meinungen und Standpunkte erst einmal ausspielen, bevor sie sich annähern.

Etwa 90.000 Mark hat die Installation gekostet. Für jedes der sieben Projekte stehen der Bauverwaltung 130.000 Mark zur Verfügung. Die Finanzierung ist zwar gesichert, doch das Geld nicht flüssig. Die zwei Projekte am Checkpoint Charlie und der Chausseestraße befinden sich in der Vorbereitung und sollen bis April fertig sein. Frank Thiel wird den Checkpoint Charlie als Symbol alliierter Militärpräsenz in Erinnerung bringen. Er will einen Leuchtkasten mit einem sowjetischen und einem amerikanischen Grenzsoldaten genau auf die Sektorengrenze stellen. In Aussehen und Funktion einem Werbekasten ähnlich, soll die Installation den Hinweis „Sie verlassen den amerikanischen/russischen Sektor“ transformieren, indem der sowjetische Soldat nach Kreuzberg und der amerikanische nach Mitte schaut. Die Passanten werden somit nicht verabschiedet, sondern von jedem Soldaten begrüßt, dessen Sektor sie früher betreten hätten. Deshalb soll der Kasten an der Kreuzung Friedrichstraße/Kochstraße auch eine Art Hinweisschild sein: „Hier geht's nach Mitte, Genosse. Hier nach Kreuzberg, Cowboy.“

Die einzigen Lebewesen, die den „Todesstreifen“ der Mauer tatsächlich untergraben konnten, waren Kaninchen. Die Minen waren für sie offenbar keine Bedrohung. Nur hin und wieder ließen die kleinen Grenzverletzer bunte Raketen hochgehen. Die Künstlerin Karla Sachse versteht die Tiere als Symbol für die Relativität von Grenzen: Auch im Todesstreifen war Leben möglich. Obwohl auf dem asphaltbelegten Übergangsbereich Kaninchen wohl niemals buddeln konnten, werden sie dort nun als lebensgroße Bronzeplatten wieder auftauchen.

Sobald das Geld da ist, werden e. Twin Gabriel, Gabriele Basch, Susanne Ahner und Heike Ponwitz die anderen vier Übergänge (Oberbaumbrücke, Invalidenstraße, Prinzenstraße und Sonnenallee) gestalten. Gabriele Basch zum Beispiel wird auf die Brücken- Gehwege am Übergang Invalidenstraße ein Mosaik aus bundesdeutschen und DDR-Warenlogos legen. Die Idee dabei: „Warenzeichen sind so etwas wie der Schatten einer Gesellschaft.“ Mit deren Verknüpfung stellt Basch die Überwindung der Trennung dar.

Der Grenzübergang am S- Bahnhof Friedrichstraße war indes der Übergang des Abschieds. An ihm ist tatsächlich ein Palast voller Tränen geflossen. Peinlich, daß der Wettbewerb den achten Übergang nicht berücksichtigt hat.