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■ Sein Selbstbild entwarf der Büroarbeiter strikt antiproletarisch, seine Neigung zum Höheren und Besseren ist legendär: Der Angestellte wollte sich immer unterscheiden vom Proleten. Doch was macht er, wenn alle angestellt sind? Das Porträt eines ratlosen Sozialtypus von Harry NuttDie Kunst, über die Runden zu kommen

Der Angestellte ist längst um das Gegenteil dessen bemüht, was ihm historisch die

Zuschreibung eines Spießerdaseins ein-

getragen hatte. Sein wahres Leben spielt sich heutzutage jenseits des Aktenkoffers ab.

Ach, was bin ich müde. / Sinn Sie aach so mied? / Bisch du au so mied? / Miad bin i, saumiad. / Kerle – isch kennt jetzt grod so wegschlofe. / Wem sagen Sie das – ich könnte im Stehen!“ So reden die Angestellten.

Reden sie wirklich so? Im „Büroroman“, den Walter E. Richartz 1976 über sie geschrieben hat, redet es so, das Personal der Firma „Dramag“, dessen Alltag ganz und gar undramatisch verläuft.

Die Kritik zeigte sich von der Innenschau eines Bürokomplexes seinerzeit begeistert. „Unter der Hand des Autors wird der langweiligste Bürotag interessant“, hieß es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). Wenn am Angestellten, den man sich in grauem Anzug und gestreifter Krawatte vorzustellen hatte, überhaupt etwas interessierte, so war es offenbar nur die Langeweile seiner Existenz.

Das muß den Angestellten irgendwann selbst auf die Nerven gegangen sein. So begann er, seinen Alltag konsequent umzurüsten. In einen mit Abenteuerspielplatz und Hobbywelten. Seither schwingt er sich aufs Snowboard und genießt es, beim Wildwasserrafting das Paddel fest in der Hand zu haben. Ihm steht der Sinn nach körperlichen Unsicherheitserfahrungen. Der Angestellte ist längst um das Gegenteil dessen bemüht, was ihm seinerzeit die Zuschreibung eines Spießerdaseins eingetragen hatte. Sein Leben spielt „Jenseits des Aktenkoffers“.

So hat es zuletzt auch Mark Siemons herausgefunden, Angestellter der FAZ. In seinem Essay versucht er das Wesen des neuen Angestellten zu ergründen, das scheinbar mühelos seinen Anspruch auf herrschenden Geschmack durchgesetzt hat. In der Tat ist es dem Angestellten gelungen, die Arbeit freizeit- und die Freizeit arbeitsförmig zu gestalten. Seine Wohnzimmereinrichtung folgt der Zweckmäßigkeit des Büros. Im kommoden Bisleycontainer verwahrt der Angestellte die Utensilien seiner bürgerlichen Existenz. Zweitschlüssel des Autos, Sozialversicherungsausweis und Gebrauchsanweisung des Videorecorders. Im Büro macht der Angestellte sich's dafür gemütlich. Bei gleitender Arbeitszeit beginnt spätestens am Freitag der Dress- down-Tag. In den Büroetagen trägt man Bundfaltenhosen und grellfarbige Sakkos.

Inzwischen verstehen sich auch Männer auf dezente Anwendung von Parfums oder wenigstens Deodorants. Die Kleidung, so Siemons, „soll ein Spiegel der eigenen Seele und nicht der äußeren Konvention sein“. Und nicht nur die Kleidung: Wie Aliens haben sich die Angestellten des gesamten Alltags bemächtigt. „Dieses sanft ästhetisierende Funktionsdesign, das sein Herkommen aus der Bürosphäre kaum verleugnet, mittlerweile aber von Bistro- und Galerie-Einrichtern für genauso geschmackvoll gehalten wird, dominiert mittlerweile das Erscheinungsbild der gesamten Republik“, so der Autor.

Der ICE ist die pfeilförmige Verlängerung eines Büros zwischen München und Hamburg. In ähnlichem Design präsentieren sich Toilettenhäuschen mit Selbstreinigungsmechanismus sowie die Einzelkabine des Beate-Uhse-Centers. Per Multifunktionstaste läßt sich das Programm steuern. Die Bilder können angehalten, beschleunigt und verlangsamt werden. Das „Stahlbad des Fun“ (Max Horkheimer/Theodor W. Adorno) gewährt die Freiheit, zwischen 128 Kanälen wählen zu können. In diesen Freizeittempeln wandelt keiner mit Sachbearbeiterbewußtsein.

In der rundum therapierten Gesellschaft verfügt der Angestellte über Umgangsformen, Selbstbewußtsein und Kompetenz. Mit einem Wort: Er ist an der Macht. Zu seinem Herrschaftsbereich gehören Fernsehanstalten, Fußballvereine und Werbeagenturen ebenso wie die oberen Etagen der Wirtschaftszentralen. In den Bankhäusern hat er große Kunstarsenale angelegt, die nur noch seinesgleichen bei der Arbeit zu sehen bekommen.

Dieser späte Triumph des Angestellten erstaunt um so mehr, als ihm zunächst keine gute Zukunft vorausgesagt wurde. Als einer der ersten hatte Siegfried Kracauer Ende der zwanziger Jahre die neue Klasse, die darum bemüht war, sich vom Proletariat wegzubewegen, unter seine Lupe genommen. Das müßige Leben, das vielen auf einmal zugänglich war, sah Kracauer durch eine geistige Obdachlosigkeit erkauft. Sie wollen hochkommen, wissen aber nicht, wohin sie gehören. „Zu den Genossen kann sie (die Masse der Angestellten) vorläufig nicht hinfinden, und das Haus der bürgerlichen Begriffe und Gefühle, das sie bewohnt hat, ist eingestürzt, weil ihm durch die wirtschaftliche Entwicklung die Fundamente entzogen worden sind. Sie lebt gegenwärtig ohne eine Lehre, zu der sie aufblicken, ohne ein Ziel, das sie erfragen könnte. Also lebt sie in Furcht davor, aufzublicken und sich bis zum Ende durchzufragen.“ Diese Ziel hätte wohl der Sozialismus sein sollen. Aber Kracauer hatte eine andere Kraft ausgemacht, die die Angestellten in die geistige Obdachlosigkeit trieb. Der Angestellte schien unter Ziellosigkeit nicht mehr zu leiden, er machte sich daran, sich zur Individualisierung durchzufragen. „Die im bürgerlichen Deutschland ausgeprägte Sucht, sich durch irgendeinen Rang von der Menge abzuheben, auch wenn er nur eingebildet ist, erschwert den Zusammenhalt unter den Angestellten selber. Sie sind aufeinander angewiesen und möchten sich voneinander sondern.“ Dieses innere Bestreben, sich vom anderen zu unterscheiden, das eine sich entwickelnde Kulturindustrie nahezu perfekt zu bedienen begann, erwies sich nach Ende der NS-Ära als äußerst haltbare Existenzform. Die Deutschen erfreuten sich nicht nur der schönen Warenwelt des Wirtschaftswunders, sie entwickelten eine Lust an der Differenz. Die von Kracauer bemerkten Sonderungskämpfe erhielten später unterschiedliche Namen. Im Verlauf des bundesrepublikanischen Aufstieg zur Wirtschaftsnation war die Unterscheidungsfreude als ein Ringen um Statussymbole ebenso erfolgreich wie verfemt.

Häuslebauen und Konsumterror schienen nur verschiedene Begriffe für die gleiche Sache im Umgang mit sozialen Sicherheiten. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu arbeitete schließlich die Theorie eines komplexen Unterscheidungswesens aus, das sich nicht nur auf den Güterverzehr erstreckte, sondern Geschmacksfragen aller Art mit einbezog. Soziale Zugehörigkeit läßt sich eben auch mittels musikalischer Vorlieben, Höflichkeitsformeln und sportlicher Praxis ermitteln.

Auf dem Markt der Distinktionen wird neben dem ökonomischen nicht zuletzt auch mit kulturellem, symbolischem und sozialem Kapital bezahlt. Der Angestellte war derjenige, der über alle Kapitalsorten gleichermaßen verfügte und sich nicht scheute, sie auch auszugeben. Wer kulturelles Kapital besitzt, so die selbstbewußte Annahme, läuft weniger Gefahr, den Verführungen der Kaufkraft zu erliegen.

Mark Siemons glaubt allerdings, daß diesem Sieg des Angestellten nach dem Ende des Sozialismus nicht zu trauen ist. Den Augenblick seines Triumphes erlebt er als Fluch. So gründlich, glaubt Siemons, habe der Angestellte Entfremdung und Fremdbestimmung bekämpft, daß die Möglichkeiten, sich zu unterscheiden, immer knapper werden. Der Angestellte hat so vollständig die Herrschaft über den Alltag gewonnen, daß jede Art von Flucht sinnlos geworden ist. Ferne Reisen, das einfache Leben auf dem Land, das multikulturelle Großstadtleben, Strenge oder Hedonismus – alle Haltungen hat der Angestellte im Repertoire, und allesamt machen sie ihn gleich melancholisch.

Manchmal, so Siemons, sehne der Angestellte sich danach, nichts weiter zu sein als ein Angestellter, „aufgehoben in einer so richtig kafkaesken, grauen, entfremdeten Arbeitswelt, die er nicht durchschaut, in der er hinter Aktenordnern verschwinden würde und in der er Weisungen erhielte, die mit seinem Leben nichts, aber auch gar nichts zu tun hätten – aus der er aber dann jeden Feierabend hinaustreten könnte in das ganz Andere, in das eigentliche Ich, die wahre Welt“.

Der Angestellte ist nicht der einzige Unglückliche in diesen Tagen. Am Ende von David Finchers Film „The Game“ stürzt Michael Douglas von einem Hochhaus sekundenlang im freien

Fall zu Boden. Kein elastisches Seil – das ihn wieder hochschnellen lassen würde und zu einem unbeschreiblichen Risikogefühl in der Spaßgesellschaft verhülfe – umschließt ihn. Er hat sich auf ein grausames Spiel eingelassen, das ihm sein ganzes Vermögen nimmt und das schließlich auch nach seinem Leben trachtet. Eine Firma namens CRS („Consumer Recreation Service“) ist die Organisatorin der schrecklichen Manipulation des Alltags, der Film eine einzige Paranoia.

Michael Douglas spielt den erfolgreichen Geschäftsmann Nicholas van Orton, der mit dem Hin- und Herschieben von Geldströmen ein Vermögen gemacht hat. Aber CRS ist von anderem Kaliber. Niemand hat die Herren des „Schlosses“ je gesehen. Finchers Film ist Kafka – Made in Hollywood. Und CRS, dechiffrierten einige Kritiker, heißt Globalisierung.

Die Botschaft lautet: Es kann heute jeden treffen. Günter van de Lücht zum Beispiel, eine seemännische Erscheinung mit grauem Vollbart und einem Faible für gemusterte Pullover. Nach der Wende von 1989 wollte sich der ehemalige Wissenschaftsredakteur einen Traum erfüllen, kaufte sich einen Frachter und ließ ihn zum Personenschiff umbauen. Van de Lücht beabsichtigte, das Schiff als eine Art Luxushotel auf den Flüssen und Seen der neuen Bundesländer fahren zu lassen. Der Bootsherr und sein Schiff waren für Ausflüge und lokale Kreuzfahrten zu buchen.

Ein Motorschaden zerstörte schließlich alle Hoffnungen. Die Banken, über die van de Lücht bereits den Kauf und einen Teil der Umbaukosten finanziert hatte, verweigerten eine Kapitalaufstockung, obwohl die Behebung des Motorschadens nicht einmal zehn Prozent der Gesamtinvestition ausgemacht hätte. Nicht im Traum habe er damit gerechnet, daß die Banken ihm den Geldhahn zudrehen würden. Der Konkursantrag erfolgte 1992, der Seemannstraum war ausgeträumt.

Inzwischen ist der Kahn zu van de Lüchts festem Wohnsitz geworden. Es gelang ihm, den sozialen Abstieg in einen persönlichen Triumph umzuarbeiten. Durch den Nachweis der Mittellosigkeit und das Nichtvorhandensein eines festen Wohnsitzes rettete er das Schiff vor dem Zugriff der Gläubigerbanken. Im Mittelschiff empfängt er nun Fernsehteams und Fotografen, um ihnen von seinem Bankrott zu berichten.

Günther van de Lücht spricht in Talkshows über Konkurse, die Machenschaften der Banken und Risiken des persönlich haftenden Unternehmers. Beratungssendungen laden ihn als Experten für soziale Fragen ein. Der bankrotte Existenzgründer hat das Scheitern seiner Unternehmensidee zum exemplarischen Fall erklärt. Darüber hinaus hat er den Verein „Ausweg e.V.“ gegründet, in dem sich Leidensgenossen versammeln und solche, die es zu werden drohen. Selbstschuldnerische Geschäftsleute, oft unzureichend abgesichert, werden im Konkursfall umgehend zum Sozialfall.

Der Typ des Unternehmers, dem man zur Reichtumsmehrung eben noch jede Skrupellosigkeit zutraute, erscheint nun als Protagonist einer gesellschaftlichen Erzählung, die insgesamt mit ihrem Abstieg, oder doch ihrer Angst davor befaßt ist. Auf dem Weg vom Angestellten zum Unternehmer hatte van de Lücht sich eines angeeignet: Wechselkompetenz. „In der individualisierten Gesellschaft“, so der Soziologe Ulrich Beck, „muß der einzelne entsprechend bei Strafe seiner permanenten Benachteiligung lernen, sich als Handlungszentrum, als Planungsbüro in bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen.“

Bestehen wird also nur, wer als Manager seiner persönlichen Krisen – zu denen insbesondere ein Schicksalsschlag wie Arbeitslosigkeit gehört – handlungsfähig bleibt. Günter van de Lücht nutzte seine Medienkompetenz nicht nur in eigener Sache, sondern gab sie sogleich an Schicksalsgenossen weiter. Der Umgang mit Angst und Unsicherheit wird, so Ulrich Beck, biographisch und politisch zu einer zivilisatorischen Schlüsselqualifikation.

Deshalb kann es hilfreich sein, sich von einander dichotomisch gegenüberstehenden Typisierungen – wie Arbeiter, Angestellte und Unternehmer – zumindest versuchsweise zu verabschieden. In seiner „Berliner Ökonomie“ hält sich der Autor Helmut Höge längst nicht mehr an einfachen Gegensätzen auf. Das Personal, auf das er bei seinen Erkundungen zum alltäglichen Wirtschaften stößt, ist überwiegend mit fröhlichem Scheitern befaßt.

Die Theorie der Berliner Ökonomie sympathisiert mit allen Formen des Verlierens. Sie folgt einem Psychoschema kalkulierten Verlusts, das Batailles Theorie der Verschwendung nicht unähnlich ist. Diese Ökonomie ist nicht zuletzt ein Kunstprodukt sowie ein literarischer Beitrag zur Wirtschaftsforschung. Sie beschreibt lokales Wirtschaften nicht vom Geldfluß her, sondern als Akteursfiktion. Es geht um die hohe Kunst, über die Runden zu kommen.

Eine zentrale Person in Höges Arbeiten ist Hanns-Peter Hartmann, in dessen wechselvoller Biographie alle Eigenschaften des typischen Akteurs der Berliner Ökonomie enthalten sind: hohe Intelligenz und Ideenreichtum, Aufmüpfigkeit und Aktionismus, Starrköpfigkeit und eine unbändige Lust am steten Chaos. „Als Kind viermal die Schule gewechselt, dann Erziehungsanstalt und drei psychiatrische Heime: So ging das los.“ Hartmann lernte Schweine- und Rinderzucht, arbeitete einige Zeit als Melker, begann ein Hochschulstudium und verdiente nach dem Wehrdienst bei der NVA sein Geld wieder als Melker. Bis zur Wende arbeitete er in der Batterienfabrik Belfa.

Was den Stoff für eine proletarische Vorzeigebiographie des DDR-Sozialismus hätte abgeben können, führte bei Hartmann meist nur zu Reibereien mit dem Staatsapparat. Hartmanns Vita, die nach gängigen Karrieremustern als Verschwendung von Talenten angesehen werden kann, führte ihn schließlich in den Deutschen Bundestag, wo er am 14. März 1996 seine Antrittsrede hielt, die ihm nach eigener Einschätzung aufgrund großer Nervosität aber mißlungen ist.

Das Wirtschaftssubjekt der Berliner Ökonomie triumphiert nicht nach Erfolgen und leidet nicht an Niederlagen. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel – so das Motto. Es könnte sich auch als Orientierungsmuster der modernen Angestelltenkultur erweisen. Mit derlei Talenten ausgerüstet, bräuchte sich der Angestellte nicht länger zur Langeweile zurückzusehnen.

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