■ Heinrich August Winkler und die 1848er Revolution
: Linke Desperados in der Paulskirche

Daß alles Unglück in der jüngeren deutschen Geschichte mit der Revolution von 1848 begann, läßt sich im Vorfeld des 150jährigen Jubiläums wieder allenthalben vernehmen. Der Historiker Heinrich August Winkler hingegen, als Weimar-Experte mit der „deutschen Katastrophe“ bestens vertraut, hält das für einen Mythos. Hätte sich die Linke in der Paulskirche durchgesetzt, dann wäre das Unglück schon viel früher eingetreten – diese These verkündete er am Dienstag abend an der Humboldt-Universität einem staunenden Publikum.

Auf eine kleindeutsch-preußische Lösung der „deutschen Frage“ mochten sich die radikalen Demokraten nicht einlassen. Eine „großdeutsche Lösung“ aber, so Winkler, „hätte einen europäischen Krieg ausgelöst“. Die Linke, „blind gegenüber den Kosten der eigenen Desperado-Politik“, sei davor nicht zurückgeschreckt. Schlimmer noch: Nicht wenige wünschten gar einen „heiligen Krieg der Kultur des Westens gegen die Barbarei des Ostens“, wie ihn der Demokrat Karl Vogt unter dem stürmischen Beifall der Linken in der Paulskirche forderte.

Auch Friedrich Engels' Pamphlet gegen die reaktionären „Völkerruinen“ in Mittel- und Osteuropa, die ein künftiger Krieg von der Landkarte tilgen werde, führte Winkler an. Der Preis für einen Erfolg der Linken wäre mithin ein „großer europäischer Krieg“ gewesen.

Daß die Liberalen angesichts solcher Perspektiven nach rechts rückten, erscheint Winkler alles andere als verwerflich: „Wollen wir sie dafür tadeln?“ Die Nagelprobe war in seinen Augen der Waffenstillstand, den Preußen gegen den Willen der Nationalversammlung mit Dänemark schloß. Zwar sprach sich die Paulskirche mit knapper Mehrheit gegen eine Beendigung des Krieges aus. Weil sie aber diese negative Mehrheit nicht in positives Handeln umzusetzen vermochte, mußte sie ihren Beschluß wenig später revidieren. Die Folge waren Aufstände der außerparlamentarischen Linken und ein „Ruck nach rechts“ in der deutschen Gesellschaft insgesamt.

Zugleich wandte sich Winkler gegen das gängige Urteil, die Revolution sei gescheitert. Zwar habe das Doppelziel von Einheit und Freiheit die Kräfte des deutschen Liberalismus überfordert, doch sei Preußen aus dem „tollen Jahr“ immerhin mit einer Verfassung hervorgegangen. Diese Angleichung an die süddeutschen Staaten habe Bismarcks Einigung von oben erst ermöglicht.

Die Freiheit hingegen ließ länger auf sich warten: Erst durch die Erfahrung des Nationalsozialismus sei die parlamentarische Demokratie in Deutschland fest verankert worden. Als „das zentrale Ereignis der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert“ hätten die Jahre 1933–45 „eine ähnliche Bedeutung wie bei anderen Nationen die Erinnerung an eine erfolgreiche Revolution“ – eine Erinnerung, „die die Demokratie festigt“. Doch das Doppelziel der Revolutionäre von 1848, Einheit und Freiheit zugleich, habe sich erst mit 150jähriger Verspätung verwirklichen lassen.

Einen „staatsmännisch-konservativen Affekt“ sah hingegen der Düsseldorfer Historiker Wolfgang J. Mommsen in den Ausführungen Winklers. Sie ließen, so der Autor eines demnächst erscheinenden Buchs über die „ungewollte Revolution“, letztlich nur zwei Schlüsse zu: Entweder sei „das Ausland“ für das Scheitern der Revolution verantwortlich, oder „es war gar nicht sinnvoll, die Revolution überhaupt anzufangen“. Die von Winkler ausgewählten Zitate gäben die „enorme Breite der demokratischen Bewegung“ nicht wieder. Der angeblich nur drohende Krieg habe in Italien längst stattgefunden, weshalb eine radikalere Gangart der Revolutionäre in Deutschland durchaus zu einem Zusammenbruch Österreichs hätte führen können. „Es lassen sich auch andere Szenarien vorstellen“, so Mommsens Fazit. „Der Dissens wird bleiben“, entgegnete Winkler. Ralph Bollmann