■ Querspalte: Unmoralisches Moskau
Vor ein paar Nächten wälzten sich die Mitarbeiterinnen der amerikanischen Botschaft in Moskau unruhig in den Betten. Die Tageszeitung Mosowski Komsomoljez hatte ihre LeserInnen gebeten, telefonisch die Frage zu beantworten: „Verspüren Sie Mitleid mit Bill Clinton?“ Die Sorgen waren unbegründet, denn die Umfrage belegte: Steckt Clinton in der Klemme, ist der Russe keine Memme.
Die meisten der 203 AnruferInnen hielten zwar seine außerehelichen Beziehungen mit dem „Flittchen“, wie Monica Lewinsky hier heißt, für so gut wie bewiesen, aber nur vier Befragte verurteilten ihn deshalb moralisch. Die Ingenieurin Veronika Lebedjewa (56) ermahnte das moralinsaure Amerika: „Es ist doch gut, wenn sie einen jungen Präsidenten haben, einen gesunden und nicht impotenten Kerl, der ein Fall fürs Klinikum ist und nicht bis drei zählen kann. Wenn er ihnen nicht gefällt, sollen sie ihn uns abgeben, und wir schicken ihnen dafür unsere Regierenden.“ Ein Anrufer erklärte: „So einen verurteilen nur Impotente und Feministinnen!“
Die russische Volksseele weiß eben noch, was normal ist. Und dies verleiht ihr gegenüber dem effeminierten Westen ein Gefühl der Überlegenheit. „Die Amerikaner sind eine bescheuerte Nation“, meint dagegen Aleksej Gussarow (26), „sie erinnern mich an meine Nachbarn. Die können auch nicht einschlafen, bevor sie herausgefunden haben, mit wem ich bumse. Hände weg von Clinton!“
Ein Politiker – darin waren sich alle einig – darf nur nach seiner Arbeit beurteilt werden. Liebend gerne würden sich die MoskauerInnen mit einem Sexskandal ihres Präsidenten beschäftigen. Die Hausfrau Galina Denissowa (50) nennt die Spielregeln: „Wenn unser Präsident vor der Duma sagen könnte, Rußland blüht auf, wir senken die Steuern, zahlen alle Pensionen und haben die Kriminalitätsrate gesenkt, dann dürfte er unseretwegen alle Sekretärinnen des Kremls und des Weißen Hauses nacheinander durchficken. Wir würden ihn hochleben lassen!“ Barbara Kerneck
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