: Die Suche nach den Kindern von Lidice
Zwei Berliner Studenten haben sich durch die Aktenberge gekämpft, in denen sich das Schicksal des von der SS zerstörten tschechischen Dorfes Lidice verbirgt, um die 98 Kinder, die 1942 verschleppt wurden, zu finden ■ Von Andrea Dech
Es ist ein eher ungewöhnlicher Auftrag für das Referat Personenfeststellung des Berliner Landeskriminalamtes. Auf Anregung des tschechischen Botschafters Dr. Boris Lazar hilft eine Arbeitsgruppe der Kripo den FU-Studenten Frank Metzing und Kerstin Schicha seit 1997 bei der Suche nach den verschollenen Kindern von Lidice, die Forschung und Öffentlichkeit lange für tot hielten.
Vor über 55 Jahren begann die Odyssee der Kinder von Lidice. Das Bergarbeiterdorf westlich von Prag war am 10. Juni 1942 als Vergeltung für das Attentat auf den „Stellvertretenden Reichsprotektor von Böhmen und Mähren“ Reinhard Heydrich dem Erdboden gleichgemacht worden. Alle Männer wurden erschossen, die Frauen in Konzentrationslager gebracht. „Die Kinder sind zu sammeln und, soweit eindeutschungsfähig, an SS-Familien im Reich zu geben. Der Rest wird einer anderen Erziehung zugeführt“, hieß es in dem Befehl aus Berlin.
Von den 98 Kindern aus Lidice wurden nach und nach 17 als „ein- deutschungsfähig“ ausgewählt. Die übrigen 81 wurden zuletzt am 3. Juli 1942 als „Abgang“ in der Bestandsmeldung eines Sammellagers in Litzmannstadt, dem deutsch besetzten Lódz in Polen, aktenkundig. Seitdem sind sie verschwunden. Nur neun der bis 1942 „eingedeutschten“ Kinder konnten nach dem Krieg in Deutschland gefunden werden und in ihre Heimat zurückkehren. Acht weitere überlebten in Kinderheimen im „Protektorat“. Die verschollenen Kinder wurden 1949 von der Tschechoslowakei für tot erklärt. Man nahm an, daß sie 1942 im 60 Kilometer von Lódz entfernten Vernichtungslager Kulmhof ermordet wurden.
„Alles fing damit an, daß ich 1989 ein Begleitheft für einen Lidice-Film der Landesbildstelle schreiben sollte. Ich dachte: Kein Problem“, erzählt Metzing. Bei der Recherche fielen ihm dann die großen Unstimmigkeiten in der Forschung zu Lidice auf. Es gab verschiedene Angaben zur Anzahl der verschollenen Kinder und zu ihrem Schicksal. Metzing forschte deshalb auf eigene Faust weiter. Ab 1991 stieg die Germanistik- Studentin Kerstin Schicha in das Projekt ein. Beide lasen sich durch Sekundärliteratur und Aktenberge in deutschen und tschechischen Archiven und brachten Indizien zutage, die die Ermordung der Kinder in Frage stellen.
Noch im Sommer 1944 werden in einem Briefwechsel verschiedener NS-Dienststellen nämlich 65 Kinder erwähnt, die „vorwiegend von Eltern aus den ehemaligen Orten Liditz und Lezky stammen“, „46 im Internierungslager in Swatoborschitz und 19 in einem Kinderheim in Prag-Reuth“. „Es ist möglich, daß zumindest ein Teil der Kinder als sudetendeutsche Waisen nach Deutschland vertrieben und Pflegefamilien vermittelt wurde, ohne von ihrer wahren Herkunft zu wissen“, sagt Schicha.
Fast 30 Regalmeter tschechischer Suchakten zu den Lidice- Kindern lagern im Staatsarchiv in Prag. 1.000 Seiten davon konnten Schicha und Metzing im letzten Jahr auswerten. Daraus ergaben sich zahlreiche konkrete Spuren.
Bei drei „Verdachtskindern“ lagen im August 1997 sogar schon die aktuellen Adressen vor. Ein Mann soll heute bei München leben, eine Frau außerhalb Deutschlands. Das dritte der „Verdachtskinder“, der heute in Beelitz bei Berlin lebende ungefähr 60jährige Robert, hat sich selbst bei den Studenten gemeldet, weil er glaubt, ein Kind aus Lidice zu sein. Er soll im Dezember 1945 mit einem Zug aus Osteuropa auf dem Bahnhof in Beelitz bei Berlin angekommen sein. In einem Güterwaggon habe man zwei ungefähr vierjährige Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, entdeckt – und mehrere Kinderleichen. Ein Ehepaar aus Beelitz nahm den Jungen zu sich und nannte ihn Robert. Die Familie erzählt, daß in Roberts Kindersprache, Deutsch mit tschechischen Brocken, auch das Wort „Lidice“ vorkam.
An diesem Punkt setzt die Hilfe der Berliner Kripo an. Modernste Kriminaltechnik soll helfen, die wahre Identität der „Verdachtskinder“ festzustellen. Mit speziellen Computerprogrammen soll geklärt werden, ob Fotos von Kleinkindern aus Lidice und heute erwachsenen „Verdachtskindern“ dieselbe Person zeigen. Drei- bis viermal monatlich treffen sich die Studenten mit der LKA-Arbeitsgruppe.
Für Robert kommen vom Alter her fünf Kleinkinder aus Lidice in Frage. Ein erstes Treffen der Studenten mit ihm brachte leider noch keine neuen Anhaltspunkte. „Wahrscheinlich ist er ein tschechisches Kind. Ob er aus Lidice kommt, wissen wir aber noch nicht“, erzählt Schicha. Jetzt soll eine medizinische Untersuchung helfen, Roberts Alter möglichst genau zu bestimmen.
143 der 195 Frauen von Lidice überlebten das Konzentrationslager Ravensbrück. Heute leben noch 37 der Frauen, 13 davon sind betroffene Mütter. In neun Fällen ist das Schicksal ihrer Kinder weiter ungeklärt. Über den ehemaligen Widerstandskämpfer Ernst Froebel nahmen Schicha und Metzing Kontakt zu den Frauen auf, die das Projekt seitdem unterstützen. „Es ist nicht unser Ziel, tränenreiche Wiederbegegnungen herbeizuführen. Aber wir wollen den Müttern sagen können, was mit ihren Kindern geschah“, sagen die Studenten.
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