Dissens bleibt unverzichtbar

Der Völkermord in Ruanda oder Serbien war ein Produkt von gezielter politischer Propaganda und Monopolisierung der Medien. Auch deshalb ist die Redefreiheit selbst unliebsamer Minderheiten, wie etwa Neonazis, der wirksamste Schutz gegen derartige Verbrechen  ■ Von Aryeh Neier

Im Jahre 1977 half ich einer Gruppe amerikanischer Nazis, ihr Recht auf Redefreiheit zu verteidigen. Daran war nichts Ungewöhnliches: Die American Civil Liberties Union (ACLU) verteidigte häufig Nazis, auch Mitglieder des Ku- Klux-Klan und andere, die mit Hate- Speech zu tun haben. Dennoch erzeugte der Fall aufgrund seiner dramatischen Situation eine große Kontroverse: Die Nazis wollten durch Skokie im amerikanischen Bundesstaat Illinois marschieren, eine Stadt mit einem besonders hohen Bevölkerungsanteil von Holocaust-Überlebenden. Ich glaubte damals – und glaube es immer noch –, daß es wichtig war, die Redefreiheit selbst einer so abstoßenden Gruppe zu verteidigen.

Zwei Fälle, die vom Tribunal des UN- Sicherheitsrats untersucht werden – die Verfolgung der jeweils Verantwortlichen für die Aufrufe zum Völkermord durch Radio Mille Collines in Ruanda einerseits und für die „ethnischen Säuberungen“ in den serbischen Medien andererseits – scheinen die gleichen Fragen aufzuwerfen wie der Skokie-Fall. Allerdings wäre ich im ruandischen und vielleicht auch im serbischen Fall auf der Seite der Ankläger.

Ein Vergleich der drei Fälle könnte helfen, einige der Fragen zu klären, die sich aus dem schwierigen Problem Redefreiheit versus Hate-Speech ergeben.

Der Skokie-Fall entwickelte sich in den siebziger Jahren aus dem Versuch einer Gruppe amerikanischer Nazis, die angespannte Situation zwischen zwei verschiedenen Rassen angehörenden Bevölkerungsgruppen in Chicago auszunutzen. Im Marquettepark, der ein mehrheitlich von Weißen bewohntes Arbeiterviertel von einem mehrheitlich von Schwarzen bewohntes trennt, demonstrierte die Martin- Luther-King-Junior-Koalition regelmäßig für die Aufhebung der Rassentrennung. Die Nazigruppe mietete einen Laden in der Nähe des Parks und begann damit, Gegendemonstrationen zu organisieren.

Besorgt über die Möglichkeit eines offen ausbrechenden Konflikts, verlangte die Stadt Chicago von den Nazis die Hinterlegung einer Geldsumme von 250.000 Dollar zur Abdeckung etwaiger Schäden. Die Forderung eines Unterpfandes war ein damals üblicher Trick sämtlicher Stadtbehörden, um die Redefreiheit und öffentlichen Auftritte als unliebsam empfundener Gruppen einzuschränken. Das lokale ACLU-Büro beschloß, die Kautionserhebung gerichtlich anzufechten. Doch noch bevor es zu einer Entscheidung kam, wurden die Nazis aus dem Marquettepark ausgesperrt.

Auf der Suche nach anderen Wegen zu öffentlichkeitswirksamen Spektakeln schrieb die Gruppe an alle Außenbezirke von Chicago und an kleinere Städte im Umkreis mit der Bitte, ihre Demonstration dort durchführen zu dürfen. Die meisten ignorierten die Anfrage klugerweise – die Stadtverwaltung von Skokie jedoch schrieb einen wütenden Ablehnungsbrief und verabschiedete eine Reihe von Erlassen, die das Marschieren mit Nazisymbolen verboten und ebenfalls eine hohe Kaution festsetzten.

Erneut baten die Neonazis die ACLU – die sämtliche Fälle bedrohter Redefreiheit vertritt – um Rechtsbeistand. Die Bürgerrechtsorganisation beschloß, gegen die Stadt Skokie zu klagen.

Damit wurde eine landesweite Debatte losgetreten, und während der 15 Monate, in denen es zu verschiedenen Gerichtsverhandlungen kam, argumentierten viele Menschen, man solle den Nazis die Erlaubnis, durch Skokie zu marschieren, verweigern. Einige stützten sich dabei auf die Doktrin der „deutlichen und unmittelbaren Gefahr“, die der Oberste Gerichtshof einige Male zur Einschränkung der Redefreiheit benutzt hatte.

Diese Doktrin der „deutlichen und unmittelbaren Gefahr“ stammt aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Damals wurden etwa 1.900 pazifistische Äußerungen während des Krieges staatsanwaltlich verfolgt. Dabei ging es in der Regel um den Vorwurf der Subversion, da die entsprechenden Äußerungen auch eine Aufforderung zur Verweigerung des Kriegsdienstes enthielten oder auf andere Weise gegen den Krieg opponierten.

Ein bemerkenswerter Fall dieser Zeit war die Anklage und Verurteilung des Vorsitzenden der Sozialistischen Partei Amerikas, Eugene V. Debs, die vom Obersten Gerichtshof bestätigt wurde. Der restriktive Charakter dieser Doktrin wurde 1951 im Prozeß gegen elf hohe Funktionäre der Kommunistischen Partei Amerikas noch verschärft. Dort entschied der Oberste Gerichtshof, daß die Regierung im Falle eines aufkeimenden Mißstands das Recht hat, Leute in Haft zu nehmen, deren verbales Eintreten für diesen Mißstand diesen gerade zukünftig herbeiführen könnte.

Hätte der Supreme Court an diesem Standpunkt festgehalten (von dem man in der Folge wieder abrückte), hätte die Regierung ein mächtiges Instrument gehabt, alle Meinungsäußerungen, die der einen oder anderen Verwaltung mißfielen, mit Verweis auf diese Regelung zu verbieten.

Interessant ist nun ein Vergleich der Fälle der Nazis in Skokie, der Antikriegsproteste während des Ersten Weltkriegs und der amerikanischen Kommunisten in den frühen Fünfzigern mit den Fällen der zu Gewalt aufrufenden Radiosendungen in Ruanda und Serbien. In den amerikanischen Fällen ging es um die Meinungsfreiheit von Minderheiten, die einen Dissens zur Mehrheitsmeinung zum Ausdruck brachten. Auch wenn die Taten, die sie befürworteten, gesetzeswidrig waren, hatte die Öffentlichkeit genug Möglichkeiten, Gegenmeinungen zu hören, bevor irgendein Verbrechen begangen wurde. Tatsächlich übertönten die gegensätzlichen Meinungen diese Minderheiten beinahe. Sie zu verteidigen war eine Verteidigung der Redefreiheit. Es bestand keine deutliche Gefahr, daß die Gewalt, zu der sie womöglich anstacheln würden, so schnell folgen würde, daß keine gesellschaftliche Diskussion mehr stattfinden könnte. Das heißt, daß die Gefahr weder deutlich noch unmittelbar war.

In Ruanda dagegen hatte Radio Mille Collines mit seinen haßerfüllten Sendungen eine Monopolstellung. Gegenmeinungen hatten keine Chancen. Darüber hinaus übernahm Radio Mille Collines nach Einsetzen des Völkermords die Aufgabe, Mob und Milizen zu den Aufenthaltsorten der fliehenden Tutsi-Bevölkerung zu dirigieren. Die Gewalttaten, zu denen sie aufgewiegelt hatten, waren deshalb untrennbar mit ihren Radiosendungen verbunden. Die Umstände in Serbien waren weniger extrem, aber ähnlich. Die staatlichen Fernseh- und Rundfunksender (RTS) hatten das Sendemonopol und benutzten es dazu, zu Haß und Gewalt aufzurufen.

Die Fälle Ruanda und Serbien zeigen die Notwendigkeit, die Freiheit der Rede selbst in unangenehmen Situationen zu verteidigen – wie es die ACLU in Skokie getan hat. Der Grund für die Effektivität der Gewaltaufwiegelung in Ruanda und Jugoslawien war ja gerade der Ausschluß aller abweichenden Meinungen aus der öffentlichen Diskussion.

Bei einer größeren Meinungsvielfalt in Ruanda hätte selbst der rassistischste Radiosender nicht zu einem Genozid aufhetzen können, bei dem innerhalb von drei Monaten 800.000 Menschen ums Leben kamen. Und hätten auch andere Stimmen in Serbien eine Öffentlichkeit gehabt, wäre der Einfluß der nationalistischen Presse und der staatlichen Rundfunk- und Fernsehsender nicht so extrem gewesen.

Rede- und Meinungsfreiheit ist letzten Endes der wirksamste Schutz gegen Verbrechen, wie sie in Ruanda und im früheren Jugoslawien stattfanden oder zu denen Julius Streicher im Nazideutschland aufwiegeln konnte. Nur der Monopolisierung der öffentlichen Kommunikation gelingt es, die Aufwiegelung zur Gewalt und ihre Ausübung miteinander zu verknüpfen.

Der Autor ist Präsident des Open Society Institutes in New York City